Bevölkerungswachstum: Das sind die Herausforderungen für Kommunen im Landkreis Leipzig
Immer mehr Menschen ziehen in den Leipziger Speckgürtel. Doch dies ist mit gewaltigen Herausforderungen für die Kommunen verbunden – wie diese fünf Beispiele aus dem Landkreis Leipzig zeigen: So stemmen Naunhof, Rötha, Grimma, Brandis und Belgershain den Zuzug.
Einst klangen die Prognosen düster: Die Bevölkerungszahl im Leipziger Land wird stark schrumpfen. Viele Menschen ziehen weg, die Geburtenzahlen sinken, ganze Dörfer werden entvölkert, hieß es damals. In den 1990er-Jahren war die Situation im ländlichen Raum tatsächlich vielerorts schwierig. Aber die Talsohle scheint durchschritten, aktuell sieht es eindeutig positiv aus – zumindest was die Kommunen im Speckgürtel von Leipzig betrifft: Die Region boomt. Doch was bedeutet es für einen kleinen Ort, wenn plötzlich 60 Familien mit Kindern in eine neue Eigenheim-Wohnsiedlung ziehen? Hier fünf Beispiele aus dem Landkreis Leipzig, die zeigen, vor welchen Herausforderungen ein Dorf und vier Kleinstädte stehen. Belgershain hat sechs Kindereinrichtungen: Belgershain: Dieses Dorf hat eine extrem junge Bevölkerung und seine Einwohnerzahl seit der Wende fast verdoppelt, sagt Bürgermeister Thomas Hagenow (parteilos). „Wir haben den Boom genutzt.“ In den vier Ortsteilen wohnen heute knapp 3500 Menschen, darunter viele Familien. Für sie stehen sechs Kindertagesstätten mit insgesamt 350 Plätzen zur Verfügung. Erst in der vergangenen Woche wurde eine neue Krippe eröffnet. Das alles sei ein gigantischer Kraftakt. Auch die Erschließung von vielen Baugrundstücken habe die kleine Gemeinde bei Naunhof stark gefordert. Momentan setze man auf „vernünftiges Wachstum“, sprich zahlreiche Lückenbebauungen, wobei die Flächen privat vermarktet werden. „Es gibt dafür Interessenten en gros“, sagt der Gemeindechef. Anfragen ohne Ende trudeln bei ihm ein. Zuzug sei eindeutig positiv. Aber die nötige Infrastruktur zu schaffen, koste eben enorm viel Geld. Brandis: „Wir wollen nach und nach wachsen“: Brandis: „Erst in den letzten fünf, sechs Jahren gab es bei uns einen spürbaren Anstieg, was den Zuzug betrifft“, sagt der Brandiser Bürgermeister Arno Jesse (SPD). Seitdem wachse die Stadt. Aktuell leben dort knapp 9700 Frauen, Männer und Kinder. In Brandis gibt es keine riesigen Baufelder, sondern hier mal 20, da 30 und dort nur zehn Plätze für Eigenheime und Doppelhaushälften. Derzeit entstehen auch Mehrfamilienhäuser mit großen Mietwohnungen für junge Familien. Die Philosophie dahinter: „Wir wollen einen guten Mix und vor allem nach und nach wachsen.“ Erweiterung der Oberschule kostet fünf Millionen Euro: Das habe mit der Infrastruktur zu tun. Man wolle vermeiden, dass in einem Jahr plötzlich 100 Kinder zusätzlich in die Schule kommen. Nach und nach werden nun die Kindereinrichtungen an die Nachwuchsschar angepasst. Eine Kita wurde erweitert, eine andere ist im vergangenen Jahr neu eröffnet worden. Oberschule und Gymnasium sollen in den nächsten vier Jahren ausgebaut werden, sie platzen nämlich aus allen Nähten. „Das ist ohne Förderung absolut unmöglich“, weiß der Stadtchef und nennt zwei Zahlen. Der gesamte Haushalt der Kommune beträgt 16 Millionen Euro – nur die Erweiterung der Oberschule wird aber schon an die fünf Millionen Euro kosten. Derzeit werde in Dresden genau über diese Förderung beraten. Der Brandiser hofft sehr, dass bei diesen „Zukunftsthemen“ nicht gespart wird. Denn allein können dies Kommunen nicht stemmen, so Jesse. 250 neue Häuser in Naunhof: Naunhof: Keine Kommune im Landkreis Leipzig wird in nächster Zeit wohl so üppig wachsen wie Naunhof. In der „Grünstadt“ entstehen 140 Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäuser sowie Mehrfamilienbebauungen. Gleich nebenan liegt das neue Wohngebiet Melanchthonstraße mit 18 Bauplätzen. Der Familienwohnpark im Sonnenwinkel bietet Platz für 74 Einzel- und Doppelhäuser. Gegenüber der Tankstelle wird eine Fläche für 22 Eigenheime vorbereitet. Das sind zusammengerechnet mehr als 250 neue Häuser, die nahezu gleichzeig entstehen – in einer Kleinstadt mit derzeit 8700 Einwohnern. „Das ist keine gesunde und koordinierte Stadtentwicklung“, sagt Naunhofs Bürgermeisterin Anna-Luise Conrad (parteilos) klipp und klar. Sie ist erst seit einem Jahr im Amt. „Das wurde vor mir in Stein gemeißelt, ich hätte sicher einiges anders gemacht“, meint sie. Doch unter ihrer Regie müsse nun „schnell und konstruktiv eine komplexe Infrastruktur“ geschaffen werden. Jede Menge Baustellen notwendig: Naunhof wird jede Menge Baustellen haben: Schulen und Kindertagesstätten sowie Straßen. Auch mehr Ärzte braucht die Stadt. Einiges ist schon angelaufen: In diesem Sommer soll der erste Bauabschnitt der Grundschulerweiterung fertig werden. Aber das werde bei Weitem nicht ausreichen. Viele Pläne liegen schon fertig in der Schublade, „doch die Realisierung steht und fällt mit der Förderung“, sagt die Stadtchefin. Sie sieht das genauso wie ihr Amtskollege aus Brandis. Nur, dass Naunhof weit mehr bauen muss. Vor Kurzem bekam die Kommune eine Förderabsage für einen Kita-Bau, der vom Freistaat mit einem 43-prozentigen Zuschuss unterstützt werden sollte. „Aber selbst wenn wir den Zuschlag bekommen hätten, wäre das nicht unbedingt ein Grund zur Freude gewesen“, meint Conrad. Denn: 57 Prozent des millionenschweren Projekts hätte die kleine Stadt selbst bezahlen müssen. Kritik an fehlender Unterstützung aus Dresden: „Wir vermissen hier die Unterstützung aus Dresden“, kritisiert die Bürgermeisterin. Sie müsse mit übergeordneten Stellen über den Bedarf an Kita-Plätzen diskutieren und diese erst überzeugen – weil ja die Wohnhäuser der Familien noch nicht fertig gebaut sind. Dabei werde der Handlungsdruck größer und größer. Unbedingt wolle sie vermeiden, dass das „System kollabiert“ und „Kinder mit ihren Schultüten vorm Haus stehen und nicht mehr reinkommen“. Bei all den erforderlichen Neubauten müsse die Stadt zudem im Hinterkopf haben, was sie damit macht, wenn es mittelfristig wieder weniger Kinder gibt. Viele Naunhofer pendeln zur Arbeit nach Leipzig, und deren Firmen zahlen dort fleißig Gewerbesteuer. Anna-Luise Conrad sagt im Scherz, dass sie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) gern fragen würde, ob er ihr nicht etwas vom Kuchen abgibt. Im Ernst sieht sie kritisch, dass ihre Kommune bislang zu stark auf Schlafstadt und zu wenig auf Gewerbestandort gesetzt hat. 800 Bewohner im Röthaer Rietzschketal: Rötha: Das große Eigenheim-Wohngebiet Rietzschketal wird schon seit den 1990er-Jahren entwickelt. Der vierte und letzte Bauabschnitt ist nun fast ausgereizt. Knapp 800 Menschen leben in diesem Stadtteil. Rötha mit heute 6200 Einwohnern ist nach und nach gewachsen. Ansonsten gibt es nur noch zwei kleine Baugebiete in den Ortsteilen Oelzschau und Pötzschau, sagt Bürgermeister Stephan Eichhorn (parteilos). Darüber hinaus gebe es nahezu keine Bauflächen mehr. Erst neulich wurde das „Apfelbäumchen“ als fünfter Kindergarten der Kommune eingeweiht. Damit sei der Bedarf gut gedeckt. Das gelte auch für die beiden Grundschulen in Rötha und Espenhain. Mehr als 1000 neue Grimmaer pro Jahr: Grimma: Die größte Stadt des Landkreises mit fast 30 000 Einwohnern und 64 Ortsteilen gehört mit rund 30 Kilometer Distanz nach Leipzig vielleicht nicht ganz zum unmittelbaren Speckgürtel. Dennoch gibt es seit Jahren Zuzug. Eine Statistik weist von 2011 bis 2020 jährlich zwischen 1100 und 1600 neue Grimmaer aus. Ein großes Eigenheim-Gebiet samt Kindergarten entsteht derzeit am Rappenberg. „Der Hype aus Leipzig schwappt zu uns, und das ist toll. Doch das kann in zehn Jahren schon wieder ganz anders sein“, sagt Grimmas Oberbürgermeister Matthias Berger (parteilos). Deshalb sei es schwierig, heute eine teure Infrastruktur zu schaffen, die schon bald keiner mehr braucht. Generell befürworte er „langsames Wachstum“. Fachwerkhäuser nutzen: Kompromisse bei Denkmalschutz: Viele seiner Ortschaftsräte wollen zudem nicht mehr das große Neubaugebiet mit 30 Eigenheimen neben dem Dorf, sondern die Nutzung von Bestandsimmobilien, die sonst im Ortskern weiter verfallen, zum Beispiel Fachwerkhäuser. Hier müsse es jedoch ein Umdenken beim Denkmalschutz geben. Denn in zehn Quadratmeter großen Zimmern mit einer Deckenhöhe von 1,80 Meter und Mini-Fenstern würden heute nicht mehr viele Familien leben wollen. Berger: „Wir brauchen hier mehr Kompromisse.“ Das sei für den ländlichen Raum wesentlich und müsse auf politischer Ebene angegangen werden. Auch als Gegentrend zu immer mehr versiegelten Flächen für Eigenheim-Wohngebiete. Lesen Sie auch: Bevölkerungsprognose: Das sind die Gewinner und Verlierer im Landkreis Leipzig Von Claudia Carell