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Was, wenn schon 2030 Schluss ist mit der Kohle?


Der Kohleausstieg ist beschlossen. Geht es nach einer möglichen Ampelkoalition in Berlin, soll er aber eher kommen. Im Kraftwerk Lippendorf sind sie überzeugt: Uns braucht man noch.
Sobald die Braunkohle im Kraftwerk Lippendorf ankommt, ist sie unsichtbar und was mit ihr passiert, muss man sich erklären lassen. Demnach ist es so: Auf eingehausten Förderbändern rast sie durch die Hallen, wird in riesigen Mühlen zu Staub, dann verbrannt. „Wirbelschichtfeuerung im Dampferzeuger“ heißt das. Ganz unten im Kraftwerksblock, der Aufzug hält auf Null Metern, sagt Kraftwerker Jens Littmann, hier könne man „ins Feuer gucken, das mögen die Menschen“. Er öffnet eine Ofenklappe, vertraut sieht sie aus zwischen den rätselhaften Industrie-Gerätschaften. Hinter der Klappe glimmen orangene Punkte, ein harmloses Flämmchen, eine Ahnung bloß von einem Feuer. Aber näher kommt man dem Ort nicht, an dem die ganze Magie und das ganze Schlechte passiert: an dem aus der Kohle viel Energie wird und viel CO2. Eine wahnsinnige Erfindung ist das, so ein Kraftwerk. Ein winziges Bisschen Ehrfurcht davor stiege wahrscheinlich auch in der fleißigsten Klima-Aktivistin auf, wäre sie hier. Aber ehrfürchtig machen auch Starkregen im Ahrtal und Waldbrand in Australien. Also wird bald Schluss sein mit der Kohle, bei deren Verstromung allein in Deutschland 130 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2 im Jahr ausgestoßen werden. Eine Frage stellt sich nun aber wieder neu: Wie schnell muss das gehen, wie schnell kann das gehen? Stimmung so lala – seit 30 Jahren: Auf 2038 haben Bundestag und Bundesrat den Ausstieg aus der Braunkohle festgelegt. Monatelang lang ist davor in der Kohlekommission um dieses Datum und einen Weg dahin gerungen worden. Jetzt, im Sondierungspapier einer möglichen neuen Ampel-Koalition ist eine andere Jahreszahl aufgetaucht: 2030 soll „idealerweise“ Schluss sein mit der Kohle. Acht Jahre früher also. Während der neue Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, CDU, sagte, sein Bundesland sei zum Ausstieg 2030 bereit, wiederholt der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, auch CDU, immer dann, wenn er gefragt wird: „Der Kohlekompromiss muss weiter gelten.“ Die Ostdeutschen, mal wieder, auf der Bremse beim Fortschritt? Volker Jahr arbeitet da, wo die Kohle herkommt, die im Kraftwerk Lippendorf südlich von Leipzig verbrannt wird: bei der Mibrag, der Mitteldeutschen Braunkohlegesellschaft. Jahr, kariertes Hemd, schwarze Kunststoffbrille, sagt zum Händedruck „Glück auf“. 1977 hat er seine Lehre im Braunkohlekraftwerk Borna begonnen. Er arbeitete in Tagebauen in Sachsen und Thüringen und 1990 an der Schließung des Tagebaus Zwenkau. Jahr muss lachen. „Nichts anderes als heute“, sagt er. Schon zu Wendezeiten war er das, was er heute noch ist: Betriebsratschef der Mibrag. Aber die meisten seiner Kollegen von damals sind heute nicht mehr das, was sie 1990 waren. Aus 53.000 Beschäftigten der Mibrag wurden nach den Wendejahren 4000, heute sind es noch 2000. Schon 30 Jahre lang also sei die Stimmung eher so lala, sagt Jahr. Jetzt, mit dem vielleicht noch früheren Ausstieg, sei sie bescheiden. Nicht nur wegen des Ausstiegs an sich, auch, „weil man uns 2038 zugesagt hat“, sagt Jahr. Seine Leute verlören so zwar nicht die Motivation („Das sind Bergleute“), aber das viel beschworene Vertrauen in die Politik. Früherer Kohleausstieg – ein Wortbruch-Problem? Volker Jahr redet wie die ostdeutschen Politiker: Viel von Vertrauen, Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit. Weniger von Strom, Wärme, Energie. Allen, dem Betriebsratschef und den Politikern, ist klar, dass der Kohleausstieg nötig ist – aber alle finden, man müsse schon noch schauen, welche Wunden gerissen werden. Dabei ist das Schlimmste längst überstanden: 140.000 Menschen arbeiteten vor der Wende in der beiden Kohlerevieren in der Lausitz und in Mitteldeutschland, heute sind es noch 10.000. Ist ein Kohleausstieg vor dem beschlossenen 2038 also vor allem ein emotionales, ein politischen Problem – eines aus der Kategorie Wortbruch? Carsten Drebenstedt ist Professor an der TU Bergakademie in Freiberg, forscht zu Rohstoffstrategien und zu den sozioökonomischen Aspekten des Bergbaus. Er findet, dass da schon was Ernstes dran sei: sich nicht an Beschlüsse zu halten, unberechenbar zu sein, „Das ist für niemanden gut – nicht für die Bürger, nicht für die Unternehmen und schon gar nicht für die Betroffenen“. Er sieht aber auch noch andere Probleme: „Es gibt keinen Plan, wie der jetzt schon steigende Energiebedarf ohne Kohle- und Atomstrom aus Wind und Sonne gedeckt werden soll.“ Es fehlten Speicher und Netze – und vor allem, sagt Drebenstedt, eine echte Idee, wo diese in den nächsten Jahren plötzlich herkommen sollen. Drebenstedt findet aber auch: „2038 ist kein Zwang.“ Tatsächlich sieht schon das Gesetz zum Kohleausstieg mögliche frühere Ausstiege vor. „Wenn man 2030 feststellt, dass die Energieversorgung aus Erneuerbaren sicher ist, dann ist das doch wunderbar“, sagt Drebenstedt. Aber dann müsse es jetzt auch losgehen. „Statt Versprechungen und Ausbauzielen brauchen wir klare Umsetzungskonzepte: was ist bis wann zu tun, wer ist verantwortlich, wer bezahlt.“ Am 31.12. 2035 soll das Kraftwerk Lippendorf abgeschaltet werden, das steht im Ausstiegsgesetz. Wenn es genug Strom aus erneuerbaren Quellen gebe, dann dürfte es auch schon an diesem Freitag im November 2021 schon keine Energie mehr in die Netze einspeisen: Sonne und Wind haben immer Vorrang, auch das steht in einem Gesetz. Meistens reicht deren Leistung aber nicht, schon gar nicht im immer dunkler werdenden November. Deshalb also laufen die beiden Blöcke des Kraftwerks Lippendorf normalerweise auf Volllast: Zweimal 920 Megawatt Leistung, Strom für rund drei Millionen Haushalte. Die minutengenauen Zahlen kann man im Informationszentrum des Kraftwerks nachlesen. Lesen Sie auch Landkreis Leipzig: Chef-Regionalplaner warnt vor früherem Kohleausstieg Wirtschaftsforscher Ragnitz: „Früherer Kohleausstieg hat gefährliche Folgen Die Ostdeutschen sind für den Klimaschutz – er darf aber nicht mehr kosten Jens Littmann, der Mann mit dem Blick ins Feuer, ist Betriebsratschef des Kraftwerks, angestellt beim Lausitzer Bergbauunternehmen Leag, das betreibt das Kraftwerk. Littmann ist bester Laune, nicht nur, weil seine Arbeit und die seiner Kollegen offenbar gerade dringend gebraucht wird. Er ist es auch, weil er ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es die Leag sein wird, die auch in Zukunft Strom produziert. Anfang Juli hat das Unternehmen in Brandenburg die Genehmigung für seinen ersten Windpark auf einem rekultivierten Tagebau beantragt, zwei Tage später in Sachsen-Anhalt einen Solarpark auf dem Gelände eines stillgelegten Braunkohlekraftwerks in Betrieb genommen. „Wir können grüne Energie, aber noch nicht sofort“, sagt Littmann. Er glaubt nicht, dass es andere sein werden, die die aktuell noch 8000 Industriearbeitsplätze der Leag in der Braunkohle ersetzen werden – das müsse schon die Leag selbst sein. Nur dauere das eben, sei nicht auf einmal in acht Jahren weniger zu machen. „Und das“, sagt Littmann, „hat die Kohlekommission alles bedacht.“ Forschungsinstitut: Kohleausstieg 2030 am günstigsten: Solche Sätze sagt Littmann oft: Die Kohlekommission habe dies und das besprochen. Die Kohlekommission habe alle Seiten zusammen gebracht. In der Kohlekommission sei man sich am Ende einig gewesen. „Bei dem Kompromiss mit dem Ausstieg 2038 haben wir keine Schampus-Flaschen aufgemacht“, sagt Littmann. „Aber wir stehen dazu. Wer das nicht tut, ist unfair.“ Nun ist es so, dass manche sich schon länger verschaukelt und unfair behandelt fühlen. Die Umweltverbände, die dem Kohlekompromiss zwar fast alle zugestimmt haben, fanden schon das, was hinterher Gesetz geworden ist, klimapolitisch zu unambitioniert: die Abstandsregeln der Windkraftwerke, die fehlende Lösung für die mit dem Kohleausstieg frei werdenden deutschen CO2 -Zertifikate. Erst kürzlich hat eine Studie des Forschungszentrums Jülich, einem Institut für Energie- und Klimaforschung, durchgerechnet, wie Deutschland treibhausgasneutral werden kann. Eines der Ergebnisse: Ein Kohleausstieg schon 2030 sei nicht nur notwendig und machbar, sondern auch die kostengünstigste Variante. So unsichtbar wie die Kohle im Kraftwerk Lippendorf ist, so unsichtbar ist auch das Kohleproblem im Kraftwerk Lippendorf. Wer die Schwaden, die aus den Kühltürmen über Lippendorf aufsteigen, Rauch nennt, den korrigieren Littmann und Jahr im Chor, sie sagen: „Das ist Wasserdampf.“ Wo denn dann das CO2 herauskomme? Na ja, das Rauchgas, das werde schon auch über die Kühltürme abgeleitet, sagt Littmann. „Aber das, was Sie sehen, das ist nur Wasserdampf.“ Von Denise Peikert