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Ostbrötchen aus Rüssen-Kleinstorkwitz


Die Legende lebt. Gemeint ist das Ostbrötchen, von dem in den ersten Jahren nach der Wende kaum jemand etwas wissen wollte. Künftig ist es wieder zu haben. Bäckermeister Jens Hennig, Inhaber des gleichnamigen Bäckereibetriebes im Zwenkauer Ortsteil Rüssen-Kleinstorkwitz, hat die Kunden dazu befragt.

Das Ostbrötchen an sich gibt es nicht. Das hat Bäckermeister Jens Hennig herausbekommen. „Aber jeder, der es von früher kennt, weiß, wie es schmeckt.“ Weil der Geschmack eben auch auf der Zunge des einzelnen liegt. Der Inhaber des Backbetriebs im Zwenkauer Ortsteil hat sich in einer Projektarbeit im Rahmen seiner Ausbildung zum Brotsommelier mit dem legendären Backwerk beschäftigt. Und er hat festgestellt, dass es zwar eine einheitliche Rezeptur für das Brötchen aus sozialistischen Zeiten gibt. „Es dürfte aber überall etwas anders geschmeckt haben.“

Dass der stellvertretende Innungsobermeister der Bäckerinnung im Landkreis Leipzig gerade die Ostbrötchen zum Thema seiner Untersuchung machte, hatten ihm quasi die Kunden mit auf den Weg gegeben. „Ich werde immer wieder gefragt, warum es denn die Brötchen von früher nicht mehr gibt.“ Also die Brötchen, mit denen so viele Erinnerungen verbunden sind, von denen aber viele in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung nichts mehr wissen wollten. Das, so der Unternehmer (75 Filialen zwischen Bitterfeld, Altenburg und Geithain sowie 820 Beschäftigte) „hat sich Mitte der 90er-Jahre geändert“. Zwar findet sich seither immer mal ein Bäcker mit Ostbrötchen im Angebot, wie die aber früher wirklich gebacken wurden, blieb unklar. Hennig ging sechs Wochen in die Tiefe und sprach mit Müllern ebenso wie mit einstigen Führungskräften der vormaligen Backwarenkombinate, die es in jedem DDR-Bezirk gab. Und er näherte sich Stück für Stück den Geheimnissen des Ostbrötchens.

Heraus kamen Unterschiede beim Mehl und vor allem in der Reifezeit des Teigs, der zu DDR-Zeit länger ruhen durfte/musste. „Heute hat dafür kaum noch jemand Zeit“, sagt der 55-Jährige, der mit seinem Backhaus ein Unternehmen führt, dessen Ursprünge im Jahr 1913 im Pegauer Ortsteil Carsdorf liegen. Hennig hat herausdestilliert, dass es eine Art Reinheitsgebot für das klassische Ostbrötchen gibt: Mehl, Wasser, Salz, Hefe und Malz – „mehr gehört nicht rein“.

Immer wieder hat der Bäckermeister in den letzten Wochen experimentiert, seinem Sohn Martin die Führung des operativen Geschäfts überlassen und probeweise gebacken. „Beim ersten Versuch rochen die Brötchen schon wie früher, sahen aber nicht schön aus.“ Mittlerweile bilden Geruch, Geschmack und Aussehen eine ordentliche Einheit.

Darauf aber wollte sich der Bäckermeister nicht verlassen und setzte auf die Macht der Demokratie. Oder besser gesagt der Kundenbefragung. Hennig ließ Kunden vor Einkaufsmärkten in Leipzig und Zeitz sowie am Donnerstag in seinem Backhaus in Rüssen-Kleinstorkwitz kosten und entscheiden. Heraus kam eine große Mehrheit für das Endergebnis von Hennigs Testreihen, das immerhin zwei Drittel und mehr der Testesser als klassisches Ostbrötchen identifizierten.

Wobei das Ostbrötchen bis zum Krieg und auch in den Jahren danach keineswegs ein Ostprodukt als solches war. Hennig macht klar, dass die deutschen Bäcker in den 30er- und 40er-Jahren im Osten wie im Westen allen regionalen Unterschieden zum Trotz tendenziell die gleiche Art von (Weizen-)Brötchen buken. Das änderte sich mit dem Druck in den 60er- und 70er-Jahren in der Bundesrepublik, als vieles schneller gehen musste, weil die Bäckereibetriebe mehrere Filialen hatten und entsprechend liefern mussten. Im Osten, wo es zwar mehr Bäcker gab, die allerdings jeweils nur ein Geschäft hatten, blieb alles beim Alten.

Daran knüpft der künftige Brotsommelier Hennig („Ich bin der vierte in Sachsen.“) an. Die Ostbrötchen sollen die bisherige Hennig´sche Doppelsemmel ersetzen – mit gleichem Gewicht (90 Gramm), aber kräftiger und ganz so, wie sie der Kunde schon früher geschätzt hat.

Von Nikos Natsidis

LVZ v. 06.08.2018