KOEPPEN IM GRAS
Anfang des Monats ging die Meldung durch die Medien von einer jungen Deutschlehrerin, die Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ von 1951 gelesen hat, weil der ab 2024 Abi-Pflichtlektüre werden soll in Baden-Württemberg. Sie war dann geschockt, weil da ständig das Wort „Neger“ vorkommt. Sie wird zitiert mit den Worten: „Das war der schlimmste Tag meines Lebens“.

Meine erste Reaktion war: Wie naiv kann man sein bzw. darf man sein – als Deutschlehrerin (nicht zu wissen, was evtl. „historischer Kontext“, „Rollenprosa“ oder irgendwas in der Art ist). Meine zweite war: Wenn das der schlimmste Tag in ihrem Leben war, hat sie bislang wohl nichts Schlimmes erlebt. Ist doch gut. – Okay, das war unsachlich, aber Spott liegt hier nahe (und er wird dann natürlich auch von garantiert falscher Seite auf die Frau ausgeschüttet worden sein; ich habe das nicht verfolgt.)

Meine dritte Reaktion war: Könnte man doch mal Koeppen lesen. Man hat Germanistik studiert, glaubt sich in der Literaturgeschichte ganz gut auszukennen, hat aber noch nie Koeppen gelesen. Nicht gut. Immerhin stand ein Exemplar abrufbereit im „Müsste/könnte man auch mal lesen“-Regal.

Ich habe also gelesen. Erste 100 Seiten ziemlich flott durchgefetzt, zweite 100 Seiten schon bedeutend langsamer, letzte 100 Seiten nur mit größter, wütender Qual. Kurz gesagt: Ich fand es grottig, im Ganzen, im Detail.

Natürlich ist der Roman nicht rassistisch, wie die Lehrerin glaubt, sondern er ist dezidiert anti-rassistisch. Aber das nützte ihm nichts – weil er so grottenschlecht ist. Denn weil alles irgendwie nicht funktioniert – der „lyrisch“-raunende Tonfall, die flachen Figuren, die öden Dialoge, die behauptete „Handlung“ (mit einem absurden Totschlag mittenmang), der lahme politisch-philosophische Überbau –, weil all das nicht (behaupte ich) funktioniert, funktioniert auch der intendierte Anti-Rassismus nicht, sondern die ewige Nennung der „Neger“ und „Nigger“ ist einfach nur penetrant wie alles in dem Roman – wie auch z. B. die Verwendung der ewigen „Nutten“ – es sind alles nur Klischees, Abziehbilder von Abziehbildern, keine Figur ist glaubhaft, keine gewinnt Eigenständigkeit, Individualität – sondern all das kündet nur von der unguten Fixiertheit des Autors auf seine Sujets und Motive und Einfälle, letztlich also von seinem Unvermögen, sich über den Stoff zu erheben, oder wie man es ausdrücken will.

Weshalb sich mir die Frage stellt: Warum ist oder wird so was Abi-Pflichtlektüre? Wer bestimmt so was und wieso fällt denen (wenn es darum geht, einen repräsentativen Roman der 50er Jahre auszuwählen) nichts Besseres ein? Inzwischen müsste man doch wohl recht gelassen Vergleiche anstellen können. Z. B. mit einem Roman wie Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde – Reifeprüfung 1953“, den ich gerade lese, weil er im selben „Könnte man/müsste mal“-Regal stand und weil ich nach dem Koeppen-Muff dringend frische Luft brauchte. Und siehe da: Man denkt erst, is n büschen gespreizt, n büschen manieristisch, vielleicht unreif (geschrieben mit 23!) – aber nix da, das ist Literatur, so geht Literatur, so funktionieren Figuren, Räume, Landschaften, so werden wir mitgerissen!

Also ich jedenfalls.

(Mein alter Deutschlehrer, dem ich so manchen entscheidenden Lektüre-Hinweis verdanke und dem ich von meinem Koeppen-Desaster berichtete, reagierte belustigt und wollte mir in der Sache nicht widersprechen, merkte aber an, dass die spätere Erzählung „Jugend“ das sei von Koeppen, „was atmet“. Auch „Treibhaus“ habe seine Meriten. Und als 15-, 16-Jähriger habe er die „Reiseberichte“ sehr geschätzt. Okay. So viel ausgleichende Gerechtigkeit muss sein. Ich werde das aber vorerst nicht überprüfen. Jetzt zurück in die frühsommerliche Hitze der Johnson’schen Seenlandschaft ...)

#Literatur #DeutscheLiteratur #Nachkriegsliteratur #Roman #Koeppen #TaubenImGras #Abifpflichtlektüre #Rassismus

Heiko Arntz hat dies geteilt

❝ “I think being slow is a gift to the world,” says Brian. “To say to people: you can enjoy things that are slow, where nothing much appears to happen. That’s a very important, anti-capitalist message. Capitalists want you to be constantly stimulated, consuming, and doing something different from what you were a minute ago – it’s about distraction. Stopping you staying in one place for a length of time because that doesn’t make any money.” ❞ → inews.co.uk/culture/music/bria…

-----------------
#BrianEno

teilten dies erneut

J. K. ROWLING ÜBER GENDER UND GESCHLECHT
Eine Blog-Lektüre von
Heiko Arntz

Mit ungläubiger Verwunderung nehme ich gerade wieder (Stand Februar 2023) zur Kenntnis, dass in den allermeisten Zeitungen, die ich eigentlich für lesenswert halte, sowie im Öffentlich-Rechtlichen samt Bildungsauftrag die Autorin Joanne K. Rowling mit großer pawlow’scher Zuverlässigkeit als „transfeindlich“ verbellt wird. Wissen diese Leute und TERF-ologe Böhmermann eigentlich, was sie da reden? Könnten sie wohl angeben, was genau sie mit „transfeindlich“ meinen? Und sie selbst wären alle „transfreundlich“? Und wie äußert sich diese Freundlichkeit? Durch haltlose Verunglimpfungen einer Autorin, deren Texte zum Thema „Sex“ und „Gender“ sie ganz offensichtlich nie gelesen haben? Brav. So geht Journalismus.

Ich will mich nicht als Experte aufspielen. Aber ich habe aus gegebenen Anlass Rowlings Blog-Text vom 10. Juni 2020 auf ihrer Webseite gelesen. Das könnten natürlich auch alle die Hexen- bzw. TERF-Jäger (m/w/d) tun. Aber vermutlich können die meisten dann doch nicht so gut Englisch (keine Schande), und dann liest man erst recht oberflächlich und pickt sich nur vermeintlich verräterische Rosinen heraus. Deswegen habe ich einige der entscheidenden Passagen ins Deutsche übertragen und moderiere einfach von Stelle zu Stelle (auch in der Hoffnung, dass es dann rechtlich als „wissenschaftliches Zitat“ oder so gilt).

Rowling beginnt mit dem Fall Maya Forstater, einer englischen Steuerexpertin, die 2019 ihre Arbeitsstelle verlor, weil sie vorgeblich «transphobe» Tweets veröffentlicht hatte. Sie hatte geschrieben: «Die gesetzliche Definition von ‹Frau› so weit auszudehnen, dass sie Männer einschließt, macht die Kategorie ‹Frau› bedeutungslos und wird Frauenrechte und den Schutz von Frauen und Mädchen untergraben.» Sowie: «Ich akzeptiere die Gender-Identität eines jeden, ich glaube nur nicht, dass Menschen ihr biologisches Geschlecht ändern können.» Sie klagte darauf hin und erhielt in zweiter Instanz recht in der Frage, ob es eine mit dem Gesetz konforme Ansicht sei, dass das Geschlecht biologisch determiniert ist.

Zu dieser Zeit, so Rowling, beschäftigte sie sich selbst bereits seit zwei Jahren mit dem Thema, weil sie an einer Krimi-Reihe arbeitete, deren Heldin eine junge Frau war, die sich auch mit dem Thema «Gender» auseinandersetzen sollte. – Hören wir, wie es weitergeht:

>>>Während ich mich noch über das Thema schlau machte, tauchten in meiner Twitter-Timeline zunehmend Anschuldigungen und Drohungen auf. Ausgelöst worden waren sie durch ein «Like». Seit ich angefangen hatte, mich für Trans-Themen zu interessieren, hatte ich es mir angewöhnt, Screenshots zu machen von Kommentaren, die ich interessant fand. In einem Fall hatte ich geistesabwesend auf «Like» geklickt, statt ein Bildschirmfoto zu machen. Dieses eine «Like» war Beweis genug für meine falsche Gesinnung. Ein noch harmloser, aber nicht abreißender Strom von vorwurfsvollen Kommentaren setzte ein.

>>>Einen Monat nach diesem unverzeihlichen «Like», setzte ich mich vollends in die Nesseln, als ich begann, Magdalen Berns bei Twitter zu folgen. Magdalen war eine unglaublich tapfere, junge Frau und Lesbe, die an einem aggressiven Hirntumor litt und im Sterben lag. Ich folgte ihr, weil ich zu ihr persönlichen Kontakt aufnehmen wollte, was mir schließlich auch gelang. Wie auch immer. Da Magdalen der festen Überzeugung war, dass das biologische Geschlecht «zählt», und, weil sie der Ansicht war, dass man Lesben nicht «Heuchlerinnen» nennen sollte, nur wenn sie keine Dates mit Trans-Frauen mit Penissen haben wollten, war der Fall für die Trans-Aktivisten auf Twitter klar, und sofort gingen die Wogen der Social-Media-Empörung hoch. [...] Ich musste mir vorhalten lassen, ich würde buchstäblich Trans-Personen töten mit meinem Hass, ich wurde als Schlampe und Fotze beschimpft.<<<

Rowling zieht sich für mehrere Monate von Twitter zurück, um der eigenen psychischen Gesundheit willen. Als sie sich wieder zurückmeldet, weil sie in der Zeit der Pandemie ein neues Kinderbuch vorab zur Gratis-Lektüre anbieten will, geht es sofort wieder los. Vor allem der Begriff TERF kommt jetzt zum Einsatz:

>>>Falls Sie nicht wissen, was das heißt (warum sollten Sie auch?): TERF ist ein von Trans-Aktivisten gebildetes Akronym und steht für «Trans-Exclusionary Radical Feminist» [Trans-ausschließende radikale Feministin]. Immer mehr Frauen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten werden inzwischen TERFs genannt und die überwiegende Anzahl von ihnen war nie radikal feministisch. Die Palette der TERFs reicht von der Mutter eines schwulen Sohns, die Angst hat, dass ihr Sohn sich einer operativen Transition unterzieht, weil er dem schwulenfeindlichen Mobbing entgehen will, bis zu der bis dato gänzlich unfeministischen alten Dame, die verkündet, nicht mehr bei Marks & Spencer einzukaufen, weil man dort Männern, die sich selbst als Frauen definieren, gestatte, in die Frauenumkleiden zu gehen. <<<

Rowling stellt sich und uns die Frage, warum sie das tut. Warum äußert sie sich öffentlich? Warum setzt sie nicht einfach ihre Recherchen fort und hält den Mund. Der Grund: Die Trans-Aktivitäten betreffen sehr konkret Rowlings Aktivitäten im charitativen Bereich. Sie hat eine Stiftung gegründet, die Menschen in prekären Verhältnissen in Schottland hilft, mit besonderer Berücksichtigung von Frauen und Kindern, unter anderem Frauen in Gefängnissen und Betroffenen von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Sie hat eine weitere Stiftung ins Leben gerufen, die die Ursachen der Krankheit MS untersucht, die bei Männern und Frauen einen ganz unterschiedlichen Verlauf zu nehmen pflegt. Und da der aktuelle Trans-Aktivismus es darauf anlegt, die juristische Definition von Geschlecht aufzuweichen, wenn nicht aufzuheben und durch den Begriff «Gender» zu ersetzen, würde das direkten Einfluss auf viele Bereiche haben, in denen sich Rowling für Frauen und Kinder engagiert, und, so Rowling, nicht zum Vorteil dieser Frauen und Kinder. – Weiter Rowling:

>>>Sorgen macht mir vor allem der rasante Anstieg der Zahlen von jungen Frauen, die sich einer operativen Transition unterziehen wollen und auch die zunehmende Anzahl derer, die eine De-Transition anstreben (also zu ihrem ursprünglichen Geschlecht zurückkehren wollen), weil sie den Schritt, den sie gegangen sind, bereut haben, der in einigen Fälle zu irreversiblen Schäden geführt hatte, wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit. Einige sagen, sie hätten sich für die Transition entschieden, nachdem sie realisiert hätten, dass sie homosexuell seien, und dass die Transition sich zum Teil der Angst vor Homofeindlichkeit verdanke, allgemein in der Gesellschaft oder in ihren Familien.<<<

Rowling weist auf die Tatsache hin, dass noch vor zehn Jahren, die meisten Menschen, die eine Geschlechtsumwandlung anstrebten, Männer waren. Die Verhältnisse habe sich inzwischen umgekehrt. Die Zahl der Mädchen, die sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen haben, ist im Vereinigten Königreich um über viertausend Prozent gestiegen. Autistische Mädchen seien dabei überproportional stark vertreten.

Die US-amerikanische Ärztin und Forscherin Lisa Littman hatte dieses Phämomen 2018 in einer Studie als «Rapid Onset Gender Dysphoria» («plötzlich einsetzende Geschlechtsidentitätsstörung») bezeichnet. Die Studie wurde vor allem von Trans-Aktivisten kritisiert (um es freundlich auszudrücken), deren zentrale These war und wohl ist, dass die Gender-Identität eines Menschen angeboren sei wie die sexuelle Orientierung. Dass man durch gesellschaftlichen Druck zur Geschlechtsumwandlung gedrängt werden könne, war/ist aus Sicht der Trans-Aktivisten ganz undenkbar. Aber genau das glaubte Littman in den Beiträgen junger Menschen in den sozialen Medien und in persönlichen Gesprächen mit diesen und mit Eltern herausgefunden zu haben. Littman beschreibt in ihrer Studie, wie ganze Freundesgruppen sich plötzlich als Transgender indentifizierten. Davon wollten die Trans-Aktivisten allerdings nichts hören, die im Gegenteil die Auffassung vertraten, so Rowling, dass ein junger Mensch, dem man die Transition verweigere, mit Sicherheit Suizid begehe.

Rowling liest in der Folge viele Berichte junger Leute, die an Gender-Dysphorie leiden oder litten:

>>>Je mehr von diesen Berichten ich lese, mit ihren detaillierten Beschreibungen von Angstzuständen, Dissoziationen, Essstörungen, von dem selbstverletzenden Verhalten, ihrem Selbsthass, je stärker drängt sich mir die Frage auf, ob ich, wenn ich dreißig Jahre später geboren worden wäre, nicht auch versucht hätte, mich einer Transition zu unterziehen. Die Verlockung dem Frausein entkommen zu können, wäre gewaltig gewesen. Als Teenager litt ich unter heftigen Zwangsstörungen. Hätte ich online eine Gruppe gefunden, Gleichgesinnte, die ich woanders nicht hätte finden können, ich glaube, man hätte mich leicht dazu bringen können, mich in Papas Sohn zu verwandeln, den er erklärtermaßen ohnehin lieber gehabt hätte.

>>>Wenn ich Texte zum Thema Gender-Identität lese, muss ich immer daran denken, wie geschlechtslos ich als Jugendliche mental war. Die Schriftstellerin Colette hat von sich selbst als einem «mentalen Hermaphroditen» gesprochen, und ein Zitat von Simone de Beauvoir kommt mir in den Sinn: «Es ist nur natürlich, wenn die künftige Frau sich über die Beschränkungen entrüstet, die ihr Geschlecht ihr auferlegt. Die Frage, warum sie sie ablehnt, ist falsch gestellt. Das Problem besteht vielmehr darin zu verstehen, warum sie sie akzeptiert.»

>>>Da es damals in der 80ern ganz unrealistisch war, ein Mann zu werden, mussten also Bücher helfen und Musik, um zurande zu kommen mit meinen psychischen Problemen und vor allem mit dieser sexuell aufgeladenen Dauerkontrolle und Dauerkritik, die so viele Mädchen und junge Frauen einen Krieg gegen ihren Körper führen lässt. Ich habe zum Glück meine eigene Form des Anders-Seins gefunden, habe die Ambivalenz akzeptiert, die das Frau-Sein bedeutet, vermittelt durch die Texte von Schriftstellerinnen und durch Musik, die mir signalisierte, dass es – trotz der Zumutungen, die eine sexistische Welt dem weiblichen Körper auferlegt – okay ist, wenn man nicht «rosa» fühlt, wenn man sich nicht aufbrezeln will, sich in seinem Denken nicht anpassen will. Es ist okay, durcheinander und verwirrt zu sein, düster, sexuell und asexuell gleichzeitig, sich unsicher zu sein, wer man ist.

>>>Um es ganz deutlich zu sagen: Ich weiß, dass eine Geschlechtsumwandlung für Personen, die an Gender-Dysphorie leiden, eine Lösung sein kann. Doch ich sehe gleichzeitig die Zahlen, die verschiedene, fundierte Studien ermittelt haben und die besagen, dass 60–90% der Teenager, die an Gender-Dysphorie leiden, diese ohne Transition überwinden.

>>>Man sagt mir: Triff dich mit Trans-Personen.

>>>Habe ich getan. Ich habe mich mit einigen jüngeren Leuten getroffen, die alle hinreißend waren. Vor allem aber habe ich eine sich selbst als transsexuell bezeichnende Frau kennengelernt. Sie ist älter als ich und einfach wunderbar. Obwohl sie offen von ihrer Vergangenheit als schwuler Mann berichtet, fällt es mir schwer, sie anders wahrzunehmen denn als Frau, und ich glaube (und ich hoffe es sehr), dass sie rundum glücklich damit ist, dass sie die Geschlechtsanpassung vorgenommen hat. Obwohl sie nicht mehr jung war, hat sie sich den notwendigen strengen Untersuchungen unterzogen, medizinischen Gutachten, Psychotherapie, dann die stufenweisen Eingriffe.

>>>Der gegenwärtige Trans-Aktivismus allerdings ist drauf und dran, alle erprobten Diagnoseinstanzen, die eine transitionswillige Person durchlaufen muss, abzuschaffen. Und ein Mann, der sich entschließt, keine Transition zu vollziehen und keine Hormone einzunehmen, kann sich einfach eine «Gender Recognition»-Urkunde ausstellen lassen und ist im Sinne des Gesetzes eine Frau. Vielen Leuten ist das nicht klar.

>>>Die Zeit, in der wir leben, ist frauenfeindlich in einem Maße, wie ich es noch nicht erlebt habe. Damals in den 80ern hatte ich geglaubt, dass meine Töchter, wenn ich einmal welche haben sollte, es viel besser haben würden als ich. Aber ich glaube, seit dem antifeministischen Backlash und mit unserer heutigen pornografisierten Internet-Kultur ist für Mädchen alles nur noch schlimmer geworden. Frauen wurden noch nie derart erniedrigt und entmenschlicht wie heute. Das reicht vom «Führer der freien Welt», mit seinen bekannten sexuellen Übergriffen, seinem «grab them by the pussy»-Geprahle, über die «Incel»-Szene mit ihrem Hass auf alle Frauen, die ihnen nicht sexuell zu Willen sind, bis hin zu Trans-Fundamentalisten, die öffentlich verkünden, dass TERFs verprügelt und umerzogen werden müssen. Und Männer des gesamten politischen Spektrums scheinen einverstanden zu sein: Das sind Frauen, die Ärger suchen. Überall heißt es, setz dich hin und sei ruhig, und wehe, ich höre einen Mucks.

>>>Ich habe all die Argumente gelesen von der Weiblichkeit im falschen Körper und dass biologische Frauen nun mal nicht die nötigen Erfahrungen hätten, und ich muss gestehen, ich finde auch dieses Gerede durch und durch frauenfeindlich und rückschrittlich.

>>>Ein weiteres Ziel der Verleugnung des biologischen Geschlechts scheint zu sein, die – für einige Personen offenbar unerträgliche – Tatsache zu unterminieren, dass Frauen ihre eigene biologische Realität haben, als wäre es ein beneidetes Privileg, das die Frauen darüber hinaus zu einer verschworenen politischen Klasse macht.

>>>Ich habe in den vergangenen Wochen Hunderte von E-Mails bekommen, die meine Befürchtungen teilen und mich bestätigen. Es reicht ganz offenbar nicht, dass Frauen sich mit Trans-Personen solidarisch erklären. Frauen sollen bekennen und akzeptieren, dass es keinerlei körperlichen Unterschied zwischen Trans-Frauen und ihnen selbst gibt.

>>>Aber wie schon sehr viele Frauen vor mir gesagt haben: Frau-Sein ist kein Kostüm. Frau-Sein ist nicht die Idee im Kopf eines Mannes. Frau-Sein ist kein rosa Hirn, ist nicht auf «Jimmy Choos» stehen oder irgendeine andere sexistische Vorstellung, die gerade als progressiv gilt.

>>>Vor allem: Die «inklusive Sprache», die will, dass weibliche Personen «Menstruierende» genannt werden oder «Personen mit Vulva», empfinden viele Frauen als herabsetzend und entmenschlichend.

>>>Ich verstehe, warum Trans-Aktivisten möchten, dass die Sprache neutral und freundlich ist, aber für diejenigen von uns, die verbal und körperlich brutal von Männern misshandelt wurden, ist die Sprache nicht neutral, sie ist ablehnend und entfremdend.<<<

Soviel zum Stichwort «hassen». In der Folge weist die Autorin noch einmal auf einen heiklen Punkt hin: die eigene Gewalterfahrung in der ersten Ehe. Dass sie das tut, halte ich für besonders aufschlussreich und wichtig und zwar nicht nur im Sinne einer «street» (bzw. in diesem Fall «house») «credibility». Das auch. Ja, sie weiß, wovon sie spricht. Der Hinweis betrifft aber darüber hinaus auch allgemein unsere gegenwärtige Diskussions-Unkultur. Denn immer glauben wir, wir würden um bloßen «Meinungen» streiten – oder auch um hehre «Ansichten». Doch jeder einzelne Mensch ist ein Bündel von Neurosen, von Ängsten vor allem, und natürlich von Wünschen und Sehnsüchten (die den Ängsten aber immer schon untergeordnet sind). Und während wir also für irgendeine objektiv richtige Sache zu streiten glauben, mit objektiven Argumenten, die doch kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank, anzweifeln kann, vergessen wir nur allzuleicht, dass es vor allem unsere Ängste, Wünsche und Sehnsüchte sind, die uns zu Anhängern bestimmter Weltbilder und vermeintlich objektiver Theorien werden lassen. Diese Einsicht diskreditiert in keiner Weise die Sache, für die wir streiten. Sie bewahrt uns aber davor, unseren Standpunkt für den einzig möglichen zu halten – und macht nebenbei begreiflich, warum es heute, in einer Zeit, in der wir armen Nervenbündel immer mehr vereinzeln, so schwer ist, Allianzen zu schmieden. (Geschlossen halten dummerweise gerade immer diejenigen die Reihen, die sich über jeden Zweifel erhaben glauben.)

Tut mir leid, der Exkurs war mir wichtig. Weiter bei Rowling. Es geht also um die Gewalterfahrung:

>>>Wenn Sie in meinen Kopf sehen könnten und fühlen könnten, was ich fühle, wenn ich lese, dass eine Trans-Frau von den Händen eines Mannes misshandelt und getötet wurde, würden sie wissen, dass ich nichts als Mitgefühl und Solidarität empfinde. Ich kann das Grauen körperlich spüren, das diese Trans-Frauen in ihren letzten Sekunden auf Erden gespürt haben müssen, denn ich habe selbst Momente erlebt, wo mein Leben nur noch davon abhing, dass mein Angreifer sich im letzten Augenblick am ganzen Leib bebend zurückhielt.

>>>Ich glaube, dass die meisten sich als Trans definierenden Personen nicht nur keinerlei Gefahr für andere darstellen, sondern dass sie vor allem selbst gefährdet sind, aus den genannten Gründen. Wie Frauen leben sie mit dem erhöhten Risiko, von ihren Partnern getötet zu werden. Trans-Frauen, die im Sex-Gewerbe arbeiten, vor allem Trans-Frauen of Colour sind noch einmal stärker gefährdet. Wie jede andere, die häusliche Gewalt und Vergewaltigung erlebt hat, fühle ich mit den Trans-Frauen, die von Männern misshandelt wurden.

>>>Ich möchte deswegen, dass Trans-Frauen sicher sind. Gleichzeitig möchte ich aber, dass geborene Mädchen und Frauen nicht weniger sicher sind. Wenn man die Duschräume und die Umkleiden irgendeinem Mann öffnet, der glaubt oder fühlt, er sei eine Frau – und wie gesagt: die «Gender Confirmation»-Urkunde macht es möglich –, dann öffnet man diese Türen allen Männer, die durch diese Tür gehen wollen. Das ist die schlichte Wahrheit.<<<

Die Autorin erwähnt ihre zweite Ehe, die ihr geholfen hat, über die Gewalterfahrung hinwegzukommen, eine Erfahrung, die sie aber gleichzeitig ihr Leben lang begleiten wird. Noch immer leidet Rowling zum Beispiel an extremer Schreckhaftigkeit. Dann erwähnt sie noch einmal die vermeintliche «Trans-Feindlichkeit»:

>>>Keine Gender-kritische Frau, mit der ich gesprochen habe, hasst Trans-Personen. Im Gegenteil. Viele von ihnen haben sich für das Thema zu interessieren begonnen, weil sie sich Gedanken um jugendliche Trans-Personen gemacht haben, und sie sind voller Sympathie für die jungen Erwachsenen, die einfach nur ihr Leben leben wollen und die furchtbar verunsichert sind, durch einen Trans-Aktivismus, den sich nicht gutheißen können. <<<

Zum Schluss kommt Rowling auf das Thema «Debatten-Kultur» zu sprechen und spielt auch noch einmal auf den mir wichtigen Aspekt an, dass wenn wir ernsthaft diskutieren wollen, wir uns auch in unseren Diskussionen als Individuen (okay, klingt besser als «Nervenbündel») wahrnehmen müssen und nicht, wie üblich, als bloße Vertreter eines erratischen Blocks der «Guten» (also ich und ein paar andere) und einem der «Bösen» beziehungsweise der Idioten:

>>>Ich kann mich sehr glücklich schätzen. Ich bin eine Überlebende, wahrlich kein Opfer. Ich habe meine Vergangenheit nur erwähnt, weil ich, wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten auch, eine komplexe Geschichte hinter mir habe, die für meine Ängste, meine Vorlieben und meine Ansichten verantwortlich ist. Ich lasse diese innere Komplexität nie außer Acht, wenn ich einen fiktionalen Charakter erschaffe, und ich lasse sie auch nicht außer Acht, wenn ich mich zu Trans-Personen äußere.

>>>Alles, worum ich bitte – was ich mir wünsche – ist, dass das gleiche Mitgefühl, das gleiche Verständnis auch den vielen Millionen Frauen entgegengebracht wird, deren einziges Verbrechen es ist, dass sie ihren Sorgen Gehör verschaffen wollen – dass man sie anhört, ohne dass sie bedroht oder erniedrigt werden.<<<

* * *

Der englische Originaltext findet sich in voller Länge hier:
jkrowling.com/opinions/j-k-row…

Wenn man zum Thema Debatten-Kultur unabhängig von Rowling weiterlesen will, empfehle ich ein Buch, das inzwischen in der 6. Auflage erschienen ist, was belegt, dass das Thema an Relevanz nichts eingebüßt hat:
Patsy l’Amour laLove [Hg.]: Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Querverlag 2017 (2022).
querverlag.de/beissreflexe/

Den Wortlaut der Twitter-Kommentare von Maya Forstater habe ich hier gefunden: «Maya Forstater siegt vor Gericht!», Emma, 11. 6. 2021 emma.de/artikel/maya-forstater…

Und beim Recherchieren bin ich auf diesen Artikel gestoßen, der mir auch gut zu passen scheint: «Ein Penis ist ein männliches Genital!», Schwulissimo, 3. 10. 2022, ein Interview mit dem geschäftsführenden Vorstand Frank Gommert der Vereinigung TransSexuelle-Menschen e.V.
schwulissimo.de/neuigkeiten/tr…

Das Simone-de-Beauvoir-Zitat stammt aus der deutschen Ausgabe Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau (aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald), Rowohlt 2011.

#Gender #Trans #JKRowling #JoanneKRowling #Feminismus #Böhmermann

teilten dies erneut

Als Antwort auf Heiko Arntz

Danke für's Teilen! Ich hatte schon den Verdacht, dass Rowling nicht der Unmensch ist, als der sie mancherorts dargestellt wird, aber nicht die Energie, das selbst zu recherchieren.

Ich kann nicht für andere sprechen, aber ich persönlich finde diese Polarisierung in der Diskussion überhaupt nicht hilfreich.

...

Zum Thema Formatierung:
Ein neuer Absatz mit Leerzeile dazwischen unterbricht die Markdown-Markierung für kursiven Text. Da muss man nach jedem kursiv gewünschten Absatz ein Schlusssternchen setzen, und bei jedem neuen kursiven Absatz ein Anfangssternchen.

«Volksinitiative für ein Genderverbot in Hamburg»

Was das sog. #Gendern angeht, bin ich hübsch hin und her gerissen. Das Sternchen werde ich mein Lebtag nicht benutzen, als gelegentlicher Verfasser von Texten zu kulturellen Themen brauche ich das unbedingt für Fußnoten (und hochgestellte Ziffern kommen mir nicht in den Text). Aber die weibliche Form in einem Text einzubauen, immer dann, wenn man das Gefühl hat, vor dem inneren Auge entsteht das Bild einer „Männerrunde“, von „Männern unter sich“ (wovor mir graut), das halte ich für sehr sinnvoll, und auch gelegentlich mal nur die weibliche Form zu verwenden, ist effektvoll. Wenn junge Leute das Sternchen verwenden, nur zu, ich würde mir aber wünschen, dass das auf spielerische, fantasievolle Weise geschieht – zum Beispiel um Puristen (und Puristinnen) zu ärgern, die (wie ich) sagen, ein Sternchen ist kein Buchstabe und stört das Schriftbild (von der Aussprache mal zu schweigen, die die gedachten „jungen Leute“ in der Regel ja ziemlich locker bewältigen). Das Sternchen sollte frech sein und vor allem die „Männerbünde“ (und ihre weiblichen Sympathisanten) ärgern. Wenn aber dieses Aufmüpfige verlorengeht und die Schreibweise zum Standard wird, bin ich nicht mehr dabei.

Als Lektor weiß ich darüber hinaus: Einen literarischen Text, im Gegensatz zum „Gebrauchstext“, einem Amtsschreiben, einer Einladung u.ä., kann man nicht schematisch „durchgendern“. Das generische Maskulinum als geschlechtsunabhängige, verallgemeinernde Form funktioniert nach wie vor gut und wird uns wohl noch eine ganze Weile erhalten bleiben.

In Hamburg wurde jetzt eine Volksinitiative ins Leben gerufen, die Gendersprache in Behörden sowie an Schulen und Hochschulen verbieten lassen will. Die Initiatorin, Sabine Mertens, ist eine kluge Frau, offensichtlich aus der (zweiten) Frauenbewegung kommend, die sich klar und deutlich von Sympathisanten aus dem rechten Lager abgrenzt (aber natürlich nichts dagegen unternehmen kann, dass die CDU sofort auf den Zug aufspringt und für sie Stimmen sammeln will). Braucht es so eine Initiative wirklich? Ist der Leidensdruck durch genderisierte Sprache wirklich so groß? Ich kann das nicht nachempfinden. Sobald jemand anfängt, sich über das Sternchen aufzuregen, werde ich zum Gender-Sympathisanten. Ich glaube einfach nicht, dass eine genderisierte Behördensprache die deutschen Sprache „verhunzen“ kann. Die Sprache wird ständig verhunzt, und es steht jedem und jeder frei, unverhunzt zu sprechen und zu schreiben. (Und „exkludiert“ fühle ich mich von der Behördensprache auch so. Der Übeltäter bzw. die Übeltäterin ist nicht der Stern, sondern das, was man „Nominalstil“ nennt.)

In diesem Fall hier bin ich (wenn auch immer nur „bis auf weiteres“) ganz auf der Seite der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Jennyfer Jasberg, die sagt: „Wir haben keine verbindlichen Regeln oder Gebote, die sagen, man muss gendern, sondern wir haben lediglich Leitfäden, die denjenigen, die das anwenden möchten, Hilfestellungen bieten.“

Und so geht es mir immer: Ich halte zu dem/der, der/die gerade angegriffen wird.
ndr.de/nachrichten/hamburg/Ham…

#Gendern #Hamburg #Volksinitiative

Heiko Arntz hat dies geteilt

Denis Scheck im Gespräch mit Susanne Fischer über Arno Schmidt (ziemlich genau ab 17.00; kann via Mediathekview auch geladen werden): ardmediathek.de/video/lesenswe…

teilten dies erneut

Heiko Arntz hat dies geteilt

Synth genius Wendy Carlos studied physics & #music at Brown & Columbia. She helped develop the 1st Moog synthesizer & her 1968 classical album Switched-On Bach went platinum. She brought music & tech together & composed soundtracks for A Clockwork Orange, The Shining, Tron & more.

Carlos was assigned male at birth & transitioned to female. Unfortunately, many journalists focus more on her gender than her accomplishments that changed music forever. wendycarlos.com #history #HistoryRemix

Dieser Beitrag wurde bearbeitet. (2 Jahre her)

teilten dies erneut

Heiko Arntz hat dies geteilt

Youtuber Daniil Orain macht die Stimme des anderen Russland hörbar derstandard.at/story/200014274… #International #Russland #Europa

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Heiko Arntz hat dies geteilt

Halfway through track one on this page & I found myself looking up with astonishment thinking "WHAT am I listening to again?"

... which is a good thing, in this case.

daily.bandcamp.com/scene-repor…

#Bandcamp #Asia #Africa #ElectronicMusic #Music

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Heiko Arntz hat dies geteilt

Für das Musikinstitut Anim wurde die Machtergreifung der Taliban zum Fluchtgrund. Bedroht sind auch Musikerinnen seines Zora-Orchesters.

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Heiko Arntz hat dies geteilt

Deutlich über 60% der Juden in Israel stammen aus arabischen Ländern. Auch wenn man Aschkenasen als „weiß“ definiert, dann gibt es keine „weiße Mehrheit“. Der Rassismus gegen Araber allgemein und Palästinenser im Speziellen speist sich nicht aus einer Idee der „White Supremacy“, sondern der „Cultural Supremacy“. Das macht den Rassismus nicht besser, aber anders und er spiegelt den Antisemitismus der anderen Seite. Jeder Seite sagt: „Wir sind besser, denn wir sind weniger schlimm als ihr!“

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Als Antwort auf Eliyah Havemann

Rassismus entschuldigt keinen Antisemitismus und Antisemitismus keinen Rassismus. Wer sich in diesem Konflikt auf eine Seite stellt, ohne deren jeweilige Fehler offen zu benennen, kann kein Teil des intersektionalen Kampfes gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sein. Rassist bleibt Rassist und Antisemit bleibt Antisemit, egal was die Gegenseite tut!

Sir Eugen Egner

Franz Rottensteiner ist einer der größten Kenner auf dem Gebiet der #ScienceFiction und #Phantastik nicht nur im deutschsprachigen Raum. Er betreute lange Jahre die Phantastische Bibliothek bei Suhrkamp und weitere wichtige Phantastikreihen bei Insel, Zsolnay u.a. Bei ihm erschienen zum ersten Mal auf Deutsch Autoren wie #PhilipK.Dick, #StanislawLem, Brian W. Aldiss und Arkadi & Boris Strugatzki. Der von ihm (seit 1963) herausgegebene #QuarberMerkur ist das wichtigste Literaturmagazin für anspruchsvolle literarische Phantastik. Wenn nun also ein #FranzRottensteiner in der neuen Ausgabe des Quarber Merkur (Nr. 123) schreibt: «Es gibt wirklich keinen anderen mir bekannten Autor, in dem sich der Wahnwitz so geballt und doch so abwechslungsreich findet wie bei Egner», nun, dann kommt das einem literarischen Ritterschlag gleich.
Zur vollständigen Rezension von Eugen Egner Erzählungsband ‹Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!› geht es hier: ar-lektoratsbuero.jimdofree.co…

Zum Bestellformular des Verlag Lindenstruth, in dem der QM erscheint, hier entlang:
verlag-lindenstruth.de/Belletr…

#Literatur #EugenEgner #Phantastik #Groteske #WeirdFiction #FranzRottensteiner #QuarberMerkur

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Die Dirty Projectors beim «Kleinen Tresen Heim-Konzert»
Die US-Band #DirtyProjectors kenn ich schon ein paar Jahre, aber so richtig warm geworden mit diesem wilden Gemisch aus #Punk-#Folk-#Experimental-plus-Chorgesang bin ich erst vor ein paar Wochen, aus welchen Gründen auch immer. Hier beim «Tiny Desk (Home)»-Konzertchen vom Anfang der Corona-Zeit präsentieren sie sich allerdings so eingängig und verführerisch schön, dass ich meine DPs kaum wiedererkenne, und nur um so mehr staune, was die musikalisch drauf haben. Wahnsinn.

yewtu.be/watch?v=DSgJ_6sOBB8

#Musik #Pop #Alternative #Rock

Heiko Arntz hat dies geteilt

Am 7. Januar jährt sich der Anschlag auf die französische Satirezeitung #CharlieHebdo zum 8. Mal, bei dem u.a. auch der Chefredakteur Stéphane Charbonnier, genannt Charb, ums Leben kam. Aus diesem Anlass hier ein Text, den ich bereits im letzten Jahr geschrieben und auf meinem Blog bzw. Facebook veröffentlicht hab.

Einleitung, bla, bla, bla, und dann:

Den größten Fehler, den man angesichts solcher Attentate begehen kann, ist leider ein sehr naheliegender: Nur allzu leicht stellt sich das Gefühl ein, es gebe da auf der einen Seite ein aufgeklärtes «Abendland» (in dem ganz selbstverständlich gilt, dass Religion kritisiert werden darf, ja muss) und auf der anderen einen unaufgeklärten «Orient», dessen Bewohner, sobald ein Fall von Verunglimpfung des Islam im gottlosen Westen ruchbar wird, in Weißglut geraten und Rache schwören und nehmen. Ein bisschen Nachdenken muss zur notwendigen Einsicht führen, dass das aufgeklärte Abendland natürlich ebenso wenig ein monolitischer Block gestandener Menschenrechtler ist wie die arabische oder die islamische Welt ein monolitischer Block des voraufklärerischen «primitiven Denkens». Natürlich schleppt auch das sogenannten Abendland noch immer sein Mittelalter mit sich herum, in Gestalt der Orbans, Le Pens, Berlusconis, Höckes, Trumps etc., wie andererseits in der arabischen, islamischen Welt genauso kritisch und aufgeklärt gedacht und kritisiert und für Menschenrechte gekämpft wird wie anderswo auf der Welt. Was nicht zuletzt der neuerliche Fall des Attentats auf Salman Rushdie zeigt: Der Mann ist gebürtiger Muslim – also Rushdie jetzt. Nicht vergessen. Noch immer gilt, dass die meisten Opfer islamisch – ich würde nicht sagen: «motivierter» (die «Motivation» ist ganz woanders zu suchen), sondern – «legitimierter» Gewalt Muslime sind. (Den ersten Jahrestag der grässlichen Taliban wurde nur von den Taliban gefeiert, nicht von der restlichen muslimische Bevölkerung von Afghanistan.)


Aber über all das wollte ich gar nicht reden, sondern nur erwähnen, dass ich aus Anlass des Jahrestages in Charbs «Gesammelten Fatwas» geblättert habe (die bisher nicht auf Deutsch erschienen sind) und mir zum Vergnügen die letzte daraus übersetzt habe.


Achtung: Menschen, die Angst vorm Sterben haben, Leute, die als Kinder zu cholerischen Anfällen neigten, sowie bei der Post angestellte Personen könnten sich in ihren Gefühlen verletzt fühlen (18+).

Voilà:

TOD DEN NERVENSÄGEN, DIE ANGST VORM TOD HABEN!
Von Charb

Ich habe Angst vor dem Tod, ich will nicht sterben, bibber-bibber … Ja, geht’s noch ein bisschen selbstgefälliger? Warum bitte schön solltest du nicht sterben wie alle Menschen? Was ist denn so besonders an deinem Leben, dass du dich daran klammerst wie eine Filzlaus? Du hast nur das eine Leben? Klar, das ist allgemein bekannt. Warum solltest du mehrere haben? Um den gleichen Schwachsinn zu erleben, den du schon einmal erlebt hast, und um an Ende wieder zu heulen anzufangen, dass du nicht sterben willst? Schlechter Verlierer! Beim Dosenwerfen müssen immer alle Dosen auf dem Boden landen und wenn nicht, kriegt das Kindchen einen Koller. Man muss älter werden, mein Bester, und am Ende, ja, sterben. Dass du Angst vor dem Moment hast, der dem Sterben vorausgeht, ist verständlich, da gibt es böse Agonien, mit denen ist nicht zu spaßen, aber heutzutage genügt ein kleiner Piks und du bekommst von all dem nichts mehr mit. Ich meine, du erinnerst dich doch noch an das unschöne Gefühl im Magen vor den Abiturprüfungen, oder? Nun also, der Tod sollte dir nicht mehr Angst machen als damals das Abitur. Und die  Angst beim Abi rührte daher, dass man durchfallen konnte. Beim Tod besteht in dieser Hinsicht keinerlei Gefahr, die Sterbeurkunde ist uns sicher. Ist es der Schritt ins Unbekannte, der dir Muffensausen bereitet? Nun, das Nichts ist nicht das «Unbekannte», sondern das Nichts. Das Nichts ist … wie soll ich es dir erklären? Denk an deinen Job bei der Post! Okay? Na also, das Nichts ist genau so, nur weniger nervig. Und was dein Leben angeht – vergiss nicht, dass du es gratis bekommen hast. Wenn du auf der Straße einen 100-Euro-Schein findest, hebst du ihn auf und hältst schön den Mund. Wenn du ihn in die Tasche steckst, überlegst du bereits, was du dir davon kaufst, richtig? Du weißt sehr gut, dass die 100 Euro nicht ewig halten werden, und du akzeptierst es. Dein Leben ist dieser 100-Euro-Schein. Sagen wir 500 Euro, um dir eine Freude zu machen. Und in Sachen Leben hast du dir nicht mal die Mühe machen müssen, dich zu bücken, um es aufzuheben. Fauler Hund!

Ich denke, Sie sind mit mir einer Meinung, die Nervensägen, die Angst vor dem Tod haben, verdienen es, in den Suizid getrieben zu werden, und der Film ihres Lebens, der vor ihrem inneren Auge abläuft, zeige nur Szenen, in denen sie Geschirr spülen! Amen.

(Aus dem Französischen von H. A.)

Charb (Stéphane Charbonnier, 1967–2015):  Les Fatwas de Charb (Petit Traité d’intollerance, tome 1), Éditions Les Échappes: 2009. 

Heiko Arntz hat dies geteilt.

Werben fürs Fediverse
Gibt es eigentlich einen knackigen Slogan, mit dem man #Facebook-Kunden, denen man bei FB bislang gefolgt ist, schmackhaft machen kann, mal bitte zu einem #Fediverse-Server zu wechseln? Es sollte vielleicht auch ein verführerischen „Argument“ zum Einsatz kommen: keine Werbung? Keine Daten-Abgreife? Keine Troll-Algorithmen? Ich kenn mich einfach zu wenig aus, will aber mit FB nichts mehr zu tun haben…
Vorschläge?

N. E. Felibata 👽 hat dies geteilt.

KLANGWELTEN

Meine drei musikalischen Entdeckungen des Jahres 2022 könnten verschiedenartiger nicht sein. Die Umstände, wie ich sie gefunden habe, tun hier nichts zur Sache (nein, es war nicht der Youtube-Algorithmus, mit dem alles mit muss). In der Reihenfolge ihres Auftretens handelt es sich um:

#FelixLaband, #Elektro-Musiker Jahrgang ’77 aus #Südafrika. Die Musik kommt leicht und chillig daher. Beunruhigende Kontraste, die den einschmeichelnden #Klanglandschaften eine ganz eigene räumliche Tiefe geben, entstehen durch die Verwendung von Sprache, authentischen Stimmen, die in der Repetition mitunter zu rhythmisch-melodischen Elementen werden. Über seine Platte «#DeafSafari» sagt Laband (sprich «la bänd»), sie sei «eine Klangcollage von Themen, die mich interessieren und die von der Welt reden, in der ich lebe». In seinem Heimatland ist er auch als bildender Künstler bekannt, seine Collagen zieren die Cover seiner CDs und der – in Dtl. gepressten – LPs und tragen nicht wenig zu der leicht unheimlichen Wirkung bei, die von einigen (nicht allen) Stücken Labands ausgehen. Süchtigmachend.

yewtu.be/watch?v=Z05nwJ1dadk&l…


Folgt #Bernd-AloisZimmermann (1928–1970). Ich bin exzessiver Vielhörer fast aller Genres, und auch innerhalb der #Klassik wird querbeet gehört, auch sehr viel #NeueMusik (also die Musik nach 1945), und doch musste ich 57 Jahre alt werden, um den Komponisten B.-A. Zimmermann erst richtig kennenzulernen. Bekannt ist er vor allem für seine Oper «#DieSoldaten», aber was gibt es da nicht alles zu entdecken! Gerade wenn man vielleicht weniger mit der sogenannten «seriellen Musik» der unmittelbaren Nachkriegszeit anfangen kann, und leichter Zugang findet zu der sog. #Spektralmusik, wie sie um 1970 aufkam, wird man hier fündig werden («Photoptosis«, 1968; «Stille und Umkehr», 1970). Zimmermann war in dieser Hinsicht seiner Zeit voraus. Und man kann, fällt mir gerade auf, sogar eine Beziehung zu Laband herstellen. Auch Zimmermann war den Klangcollagen sehr zugetan, wie sein groß angelegtes «Requiem für einen jungen Dichter» belegt (mit seinen vielen verschiedenen O-Ton-Einspielungen), aber auch seine sehr komische «Musique pour les soupers du roi Ubu» (1966), die ausschließlich aus Zitaten aus der #Musikgeschichte besteht.

yewtu.be/watch?v=MHy1I9T1RSU

Und schließlich, Nr. 3: Mein Faible für #arabischeMusik fand neues Futter in der in #Israel ansässigen Formation #El-Khat (wie die Droge zum Kauen). Was die Plattenfirma (#BatovRecords) über das zweite Album der Band «Aalbat Alawi Op. 99» sagt, gilt sogar noch mehr für das Debüt «Saadia Jefferson» (2019): «Ein tiefes Eintauchen in die #jemenitischen Wurzeln des Bandleaders #EyalElWahab und deren inspirierte Neuinterpretationen. Ein rasendes Orchester aus Perkussion, Bläsern, Streichern, Elektrizität und el Wahabs selbstgebauten Instrumenten. Mesmerisierende retro-futuristische Klänge.»
Musik, die einen, wenn man sie einmal gehört hat, nicht mehr loslässt. Also mich.

yewtu.be/watch?v=-SKlPPF7bH4

teilten dies erneut

NICHTS NEUES UNTER DER SONNE
Der Politwissenschaftler #EkkehartKrippendorff (1934–2018), Pionier der #Friedensforschung in Deutschland, in seiner 2012 erschienenen Autobiografie mit Blick auf die veränderte Weltlage seit dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Kuwait über das «älteste und größte Gewerbe der Welt»:

«Das Militär war auf einmal als legitimer Akteur auf die Bühne der Politik zurückgekehrt. Der Mangel an prinzipieller Klarheit in der Militär- und Kriegsfrage führte innerhalb der einst gemeinsam gegen Hochrüstung und nukleare Drohpolitik kämpfenden relativ kleinen Gemeinschaft der FriedensforscherInnen zu bitteren Disputen: Angefangen mit dem Golfkrieg, der auch Israel bedrohte, über den jugoslawischen Bürgerkrieg und den Kosovo, wo es um Genozid zu gehen schien, bis hin zu den Reaktionen auf 9/11 spaltete sich die Disziplin und wurden selbst Freundschaften irreparabel beschädigt, indem die Einen nun einer menschenrechtlich-moralischen Rechtfertigung militärischer Interventionen, und zwar eben auch mit deutschen Soldaten, das Wort redeten, die Anderen – zu denen ich mich zählte – militärische Gewalt weiterhin unter allen Umständen ablehnten und als PazifistInnen ihren KollegInnen von gestern ‹Bellizismus›, also intellektuelle Kriegsbereitschaft vorwarfen.»

Krippendorff warf damals der eigenen Zunft vor, sich in szientifischer Terminologie zu ergehen, statt das Übel an der Wurzel zu packen: «Nicht der Krieg, sondern das Militär als Bedingung der Möglichkeit von Kriegen war das Problem – und nicht nur das Militär als materieller Ermöglicher von Krieg, sondern darüber hinaus als eine für das gesamte politische Denken kontingente Struktur, auch und gerade wo der politische Diskurs sich seiner militärisch geprägten Kategorien und Denkstrukturen nicht bewusst ist. Die bloße Existenz von Militär konditioniert ihn und blockiert die kreative Phantasie für gewaltfreie Konfliktlösungen, weil jede politische Klasse immer schon weiß, dass sie auf diese ‹ultima ratio› zurückgreifen kann.»

In: E. K., Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche, Verlag #Graswurzelrevolution, 2012.

teilten dies erneut

Avantgarde im Rückwärtsgang
EIN PORTRÄT DES DÄNISCHEN KOMPONISTEN RUED LANGGAARD

Die verbürgte Anekdote geht so: 1968 traf sich in Stockholm eine Jury, bestehend aus skandinavischen Komponisten, um zeitgenössische Werke für das jährliche Festival der Nordischen Musiktage auszuwählen. Unter den Anwesenden befand sich auch #GyörgyLigeti, der Ende der Sechziger Gastprofessor an der Stockholmer Musikhochschule war. Der dänische Komponist #PerNørgård hatte eine Partitur mitgebracht, die bereits fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte: #SfærernesMusik (#Sphärenmusik) für Sopran, Chor, Orchester und Fernorchester, geschrieben 1918 von dem damals gerade 25jährigen #RuedLanggaard, uraufgeführt 1921 in Karlsruhe, aber in Dänemark nie gespielt, wo Langgaard seit seinem Tod im Jahr 1952 längst in Vergessenheit geraten war. Nørgård plazierte die Partitur so, dass Ligeti sie unweigerlich in die Hand nehmen musste. Der Däne beobachtete, wie der berühmte Kollege zu blättern begann, erst zügig, dann immer langsamer. Schließlich fing er noch mal von vorn an, und diesmal ließ er sich Zeit, studierte jeden Takt. Schließlich erhob er sich, schlug, um Ruhe bittend, gegen sein Glas, und sprach: „Meine Herren“ – Damen waren offensichtlich nicht anwesend (those were the days) – „meine Herren, ich habe gerade festgestellt, dass ich“ – Blick aufs Titelblatt – „Langgaard-Epigone bin.“

György Ligeti hatte 1961 mit seiner Komposition #Atmosphères einen Meilenstein in der #NeuenMusik gesetzt. Das Orchesterwerk besteht ausschließlich aus Tonclustern, also „Klangflächen“, statt melodisch-rhythmischen Strukturen, und Ligeti musste jetzt zur Kenntnis nehmen, dass ein unbekannter Däne diesen Vorstoß in die Moderne bereits gut vierzig Jahre vor ihm unternommen hatte.

Doch Rued Langgaard war ein Modernist wider Willen. Geboren 1893 in Kopenhagen als Sohn einer Pianistin und eines Komponisten und Musikphilosophen, war er das, was man ein Wunderkind zu nennen pflegt. Mit drei Jahren kann er Noten lesen. Mit fünf Jahren lernt er bei der Mutter Klavier. Mit sieben entstehen erste Klavierkompositionen. Mit elf Jahren debütiert er als virtuoser Improvisator auf der Orgel der Frederikskirke (der „Marmorkirche“) in Kopenhagen. Mit 15 beginnt Langgaard mit der Komposition einer ersten Symphonie. Als das Werk nach drei Jahren intensiver Arbeit fertiggestellt ist, gilt es im Kopenhagener Konzertbetrieb als unaufführbar. Mit seinem über hundertköpfigen Orchester und einer Spieldauer von über einer Stunde sprengt es (in einem Land, in dem das elfte Gebot „Maßhalten“ lautet) alle Dimensionen. Doch über seine Eltern hat Langgaard Kontakt zu den #Berliner Philharmonikern. Er kann seine Partitur dem Dirigenten #Arthur Nikisch zeigen, und die Reaktion ist ermutigend. Man entschließt sich, die Symphonie ins Programm zu nehmen. Im April 1913 erlebt das Werk unter Leitung von #Max Fiedler seine Uraufführung. Das Berliner Publikum und die Kritik nimmt sie begeistert auf. Rued Langgard war zu diesem Zeitpunkt keine zwanzig Jahre alt. Was Ruhm und Anerkennung anging, hatte er den Gipfel seiner Karriere erreicht. Von jetzt an sollte es bergab gehen.

Bis 1924 entstehen in rascher Folge Langgaards wichtigste und/oder schönste Kompositionen: die symphonischen Dichtungen „Sfinx“ und „Tonebilleder“, die Klaviersonate „Afgrundsmusik“ („Abgrundsmusik“), die 2. Violinsonate, die „Humoreske“ für Bläser und Trommel, die 4. und die 6. Symphonie, das 2. und 3. Streichquartett und nicht zuletzt die Oper „Antikrist“. Aber die Werke, wenn sie denn überhaupt in Dänemark aufgeführt werden (nicht selten vom Komponisten selbst finanziert), stoßen auf Ablehnung. Man nimmt Langgaards, zugegeben, originelle Ideen zur Kenntnis, reagiert aber verständnislos angesichts der eigenwilligen Formgebung (die man für das Fehlen von Form hält).

Das Wunderkindtum rächte sich jetzt: Mit seiner ersten Symphonie war Langgaard auf der Höhe der Zeit gewesen. Er hatte einfach eine Generation übersprungen und sich kühn eingereiht in die Riege der #Mahler, #Strauß, #Glasunow und #Sibelius, also der Jahrgang ’60 Geborenen. Er hatte als Jungspund #CarlNielsen die Stirn geboten, der alles dominierenden Gestalt des dänischen Musiklebens, dessen Modernität Langgaard bewunderte, dessen kühl-abgezirkelte Formgebung er indes verachtete. Doch jetzt, in den zwanziger Jahren, hatte Langgaards eigene Generation das Ruder übernommen, und die steuerte in Sachen Musik in deutlich einfacheren Fahrwassern. Seichteren, wie Langgaard zweifellos gesagt hätte. Die mit dem Ersten Weltkrieg einhergehenden weltanschaulichen und sozialen Umbrüche hatten auch das kulturelle Leben auf den Kopf gestellt. An die Musik wurden jetzt sehr konkrete Forderungen gestellt, pädagogische, politische, kommerzielle. Es war die Zeit der aufkommenden Jugendmusikschulen, der neuen Medien Radio und Grammophon.

Rued Langgaard war bis zu seinem Tod den musiktheoretischen Ideen seines Vaters Siegfried verpflichtet. Der hatte in seinen Schriften, in der Nachfolge von #RichardWagner, #FriedrichNietzsche, #AlbertSchweitzer und so manchem Theosofen, ein System zur geistig-kulturellen Erneuerung der Gesellschaft entwickelt. Die Musik spielte in diesem System die zentrale Rolle. Sie war der Zugang des Menschen zu den höheren Sphären, sprich: zum Göttlichen. Die Sprache der neue Sachlichkeit, wie sie sich im Neoklassizismus eines #Strawinsky äußerte oder in der französischen Gruppe #LesSix mit ihrer Hinwendung zu Varieté und Jazz, war für diese geradezu priesterliche Aufgabe natürlich nicht geeignet.

Für Rued Langgaard war nicht die Komplexität der Feind, sondern die Unterhaltungsmusik. Die wahre Musik im Langgaardschen Sinne konnte keine Partikularinteressen gelten lassen, sie war auf Totalität bedacht. Das bedeutete im übrigen nicht, dass der Blick des Komponisten weltabgewandt ins Nichts gerichtet war, sondern im Gegenteil, die Musik sollte ausdrücklich „alles“ umfassen. Langgaard spricht in seinen privaten Aufzeichnungen von einer „alle tings musik“ (auf expressionistisch etwa: „Allheitsmusik“). Was dies bedeutet wird in seinem Klavierzyklus „Insektarium“ von 1917 deutlich. Dort werden forficula auricularia (Gemeiner Ohrenkneifer), acridium migratorium (Wanderheuschrecke), melolontha vulgaris (Maikäfer) & Co. zu Hauptpersonen minimalistischer Charakterstücke. Mit seinen Spielanweisungen, direkt die Saiten des Klaviers zu zupfen und den Deckel als Perkussionsinstrument zu verwenden, ist es eines von Langgaards avanciertesten Kompositionen.

Nach über zehnjährigem zähen Ringen um Anerkennung im eigenen Land (oder wenigstens um eine Stellung als Organist in einer der größeren Kirchen) war die Talsohle erreicht. Der ohnehin psychisch nicht sehr stabile Mann macht eine Krise durch, die ihn an allem zweifeln lässt, nicht nur an der Welt um ihn herum, sondern auch an der eigenen Musik. Spätestens mit dem 3. Streichquartett von 1924, so glaubt er, ist er zu weit gegangen. Für die „wahre Musik“ kann es keine Zukunft geben, also gibt es nur eine Möglichkeit – zurück zu den Quellen: zu #NielsWGade und zu #RobertSchumann (dem Langgaard sich nicht nur musikalisch verbunden fühlt: Bereits 1915 hatte eine psychische Krise Langgaard ins Sanatorium geführt, zeitlebens fürchtete er wie Schumann in der Irrenanstalt zu enden). Langgaard vollführt eine Kehrtwende um 180 Grad und komponiert ab sofort nur noch in der Tonsprache des 19. Jahrhunderts. Als Komponist ist er gescheitert, als Mensch ein Kuriosum im Stadtbild Kopenhagens. Man sieht ihn regelmäßig durch die Straßen laufen mit zu kurzen Hosen und zu langen Haaren und sonderbar damenhaften Schuhen.

1940 erhält er doch noch die lang gesuchte Organistenstelle – vermutlich hinter seinem Rücken vermittelt durch Komponistenkollegen, die das Elend nicht mehr mit ansehen können. Sie führt ihn – und seine Ehefrau, ohne die er nicht überlebt hätte – ins süd-jütländische #Ribe, das Langgaard gern auch „Ribäh!“ nennt. Er fühlt sich abgeschoben und ist es auch.

1944 kommt es noch einmal zu einem produktiven Raptus. Langgaard ist wieder inspiriert und notiert, was ihm durch den Kopf geht, ohne Rücksicht auf Verluste. Er schreibt seine 11. Sinfonie. Sie beginnt schwungvoll optimistisch wie nur je ein effektvolles #RichardStrauss-Motiv im 6/4-Takt. Schwingt sich flott in die Höhe und bleibt unvermittelt auf einem Septakkord stehen – einem sehr langen Septakkord. Tusch, wildes Geigengejubel, es will und will nicht aufhören, eine chromatisch absteigende Bläserfigur kündigt Großes an. Doch dann beginnt das Ganze wieder von vorn. Insgesamt zwölfmal. Es folgt eine ekstatische Coda, und die sechseinhalbminütige „Symphonie“ ist zu Ende. Ist Langgaard jetzt völlig verrückt geworden? Erst ein zweiter Blick, ein genaueres Hinhören lässt erkennen, wie komplex das Stück aufgebaut ist. Es moduliert fast unbemerkt, kämpft sich von F-Dur über Fis-Dur, As-Dur, G-Dur und A-Dur hoch, um am Ende wieder nach F zurückzufallen. Von „Sisyphos“ spricht Langgaard im Zusammenhang mit der Symphonie. Das wird das Thema seiner letzten Jahre bleiben, das eigene vergebliche Ringen mit der Musik und seiner absurden Situation als Komponist in einer Zeit extremer Umbrüche. Seine 12. Symphonie von 1946 ist fast ebenso kurz. Ans Ende der Partitur schreibt er: „Meine 1. Symphonie noch einmal komponiert in konzentrierter Form! ... Rued Langgaard, fünfzehnjährig“.

Wenn dies musikalische Späße sind, dann nimmt der Komponist sie sehr ernst. Und wie in seiner früheren produktiven Phase stößt er auch jetzt, auf dem Weg der (Selbst-)Parodie, gewissermaßen ungewollt in neue musikalische Welten vor. Er schafft Werke, die mit den herkömmlichen Analysemitteln nicht recht in den Griff zu bekommen sind, für die erst später Hilfsbegriffe wie „Konzeptkunst“ oder „Postmodernität“ bereitgestellt wurden. Hierher gehören unter anderem die Werke für Chor und Orchester von 1948: „Res absùrda!?“ und „Carl Nielsen, vor store Komponist“ („Carl Nielsen, unser großer Komponist“). Letzteres ist 32 Takte lang. Der vollständige Gesangstext besteht aus den fünf Wörtern des Titels, und die Spielanweisung lautet: „Zu wiederholen bis in alle Ewigkeit.“ Heutige Plattenaufnahmen pflegen kleinmütig irgendwann bei Minute acht auszublenden.

(Zuerst erschienen in: #Konkret, 12/2018. Literatur: #BendtViinholtNielsen, Den ekstatiske outsider – Rued Langgaards liv og musik, Engstrøm & Sødrings Musikforlag, Klampenborg 2012. Abbildung: R. Langgaard, 24jährig; mit Dank an B. V. Nielsen.)

#Musik #Klassik #Avantgarde #RuedLanggaard #Dänemark #GyörgyLigeti

teilten dies erneut

Sämtliche Haydn-Symphonien
«Haydn Symphonies (complete)»: Ich habe mir die Box schon vor ca. einem Jahr gekauft, der Preis (beim Versandhändler meines Vertrauens) ist einfach unschlagbar (€30). Zunächst war ich skeptisch. Ist das ungute Schnäppchen-Mentalität, die mich zum Kauf verleitet hat? Brauche ich wirklich ALLE (104) Haydn-Symphonien? Inzwischen kann ich sagen: Ja, ich brauche! Und kann die in vierzehnjähriger Arbeit entstandene Gesamteinspielung von Adam Fischer nur empfehlen.

#Musik #Klassik #JosephHaydn #Symphonien

Der Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach (1892–1957) über die Erzählbarkeit der gegenwärtigen Geschichte
«Man denke an die Geschichte, welcher wir selbst beiwohnen; wer etwa das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland, oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, der wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt ... sind; das Geschichtliche enthält eine Fülle widersprechender Motive in jedem Einzelnen, ein Schwanken und zweideutiges Tasten bei den Gruppen; nur selten kommt (wie jetzt durch den Krieg) eine allenfalls eindeutige, vergleichsweise einfach beschreibbare Lage zustande, und auch diese ist unterirdisch vielfach abgestuft, ja sogar fast dauernd in ihrer Eindeutigkeit gefährdet; und bei allen Beteiligten sind die Motive so vielschichtig, dass die Schlagworte der Propaganda nur durch roheste Vereinfachung zustande kommen – was zur Folge hat, dass Freund und Feind vielfach die gleichen verwenden können. Geschichte zu schreiben ist so schwierig, dass die meisten Geschichtsschreiber genötigt sind, Konzessionen an die Sagentechnik zu machen.»

E. Auerbach, Mimesis – Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern 1946)

N. E. Felibata 👽 hat dies geteilt.