Leipzigs Olympia-Bewerbung: Hätte die Stadt wirklich von den Sommerspielen 2012 profitiert?
Deutscher Bewerber für Olympia 2012 – vor 20 Jahren war der Jubel über Leipzigs Triumph beim nationalen Ausscheid riesengroß. Doch schon ein Jahr später folgte die Ernüchterung. Was ist geblieben vom großen Traum, die Jugend der Welt in die Messestadt zu holen?
Der Markt ist ein einziger Triumphschrei. Zehntausende Arme strecken sich Richtung Himmel, Menschen fallen sich in die Arme, es fließen Tränen. Der 12. April 2003 ist der Tag, der als „Wunder von Leipzig“ haften blieb. Gerade hatte das Nationale Olympische Komitee (NOK) in München den deutschen Bewerber für Olympia 2012 gekürt: nicht den Favoriten Hamburg, sondern Leipzig. Eine Sensation, die auch 20 Jahre später fühlbar ist für alle, die ihn erlebt haben. Und es sind nicht nur Erinnerungen, die geblieben sind.
Redet man mit Wolfgang Tiefensee über den besagten Tag, gerät er ins Schwärmen. „Es war unglaublich aufregend, unvergesslich“, sagt der heute 69-jährige thüringische Wirtschafts- und Wissenschaftsminister. Vor dem ohnehin schon emotionalen Bewerbungsfilm der Stadt – Olympia in Person einer jungen Frau, die durch die Stadt läuft und der sich immer mehr Leipziger anschließen – spielte der damalige Leipziger SPD-Oberbürgermeister auf dem Cello das Lied „Dona Nobis Pacem“ („Gib uns Frieden“).
Nicht nur das NOK, nicht nur die Anwesenden, ein ganzes Land war verzaubert. Tiefensees Auftritt stand für eine Bewerbung, die statt Bombast auf Seele und Nähe setzte. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) das Ergebnis verkündete, brachen alle Dämme. „Oh, wie ist das schööön“, sangen rund 20.000 Menschen auf dem Leipziger Markt. Ein Feuerwerk läutete die letzte Stunde eines für Leipzig historischen Tages ein, die LVZ verteilte eine aktuell produzierte Sonderausgabe.
Im weiteren Verlauf gab es neben dem OBM als botschaftenden Architekten noch einen (stadt-)planerischen: den Bau-Beigeordneten Engelbert Lütke Daldrup, der im November 2003 Burkhard Jung als kommunalen Olympiabeauftragten ablöste. „Die Leipziger Olympiabewerbung war – ähnlich wie meine Zeit als Geschäftsführer der Berliner Flughäfen – eine der aufregendsten Zeiten meines Berufslebens“, sagt der 66-Jährige heute.
Auch ihn hat die Woge der Begeisterung getragen, die durch die Region ging. „Es war ein Gegenentwurf zur damals immer dominanter werdenden Ideologie von ,big games − big money‘“, so Lütke Daldrup. „Da eine Stadt mit nur einer halben Million Einwohnern keinen großen Olympia-Stadtteil bauen und sinnvoll nachnutzen kann, entstand die Idee der ,Spiele mitten in der Stadt‘ mit menschlichem Maßstab.“
Unter anderem setzte Leipzig auf ein innovatives Beherbergungskonzept mit Zwischennutzung sanierungsbedürftiger Altbauten für die olympischen Gäste, auf ein ambitioniertes Verkehrskonzept und recycelbare Stadionbauten. Investruinen nach den Spielen drohten demnach nicht – und das kam in der Bevölkerung an. „Das Olympia-Projekt signalisierte das Wiederankommen Leipzigs in der Liga wichtiger deutscher Städte und stärkte das Selbstwertgefühl“, sagt Lütke Daldrup.
Dann aber folgten Negativ-Schlagzeilen. Über den Geschäftsführer der Bewerbungskomitee Leipzig 2012 GmbH Dirk Thärichen, der beim Stasi-Wachregiment Felix Dzierzynski seinen Wehrdienst abgeleistet hatte. Tiefensee gab ihm Rückendeckung, doch der Druck war zu groß, im Oktober 2003 musste der Geschäftsführer gehen. Thärichen hat längst seinen Frieden damit gemacht. „Von Beginn an habe ich diese fünf Monate beim Wachregiment offen und mehrfach angesprochen – und es gab keine Probleme“, sagt er. Bis der Fakt öffentlich wurde und an Dynamik gewann.
IOC-Präsident ändert seine Haltung
Kurz darauf wurden Vorwürfe der Vetternwirtschaft gegen Sachsens Olympia-Staatssekretär Wolfram Köhler laut, woraufhin Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) den Riesaer in den einstweiligen Ruhestand versetzte. Leipzigs Olympia-Beauftragter und Bürgermeister Burkhard Jung geriet derweil wegen der vermeintlichen Genehmigung dubioser Provisionszahlungen unter Druck; für ihn übernahm Lütke Daldrup.
Dass Leipzig letztlich scheiterte, lag jedoch am Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dessen Präsidenten Jacques Rogge. Hatte er Leipzig noch im April wegen des Anti-Gigantismus-Konzepts gelobt und ermutigt, hieß es bei der Absage am 18. Mai 2004, Leipzig sei „definitiv zu klein für Olympia“. Letztlich bekam London die Spiele.
Vermächtnis fließt in „Planwerk Leipzig 2030“ ein
Was ist geblieben von der Bewerbung, außer konservierten Emotionen und Erinnerungen? „Eine Menge“, betont Lütke Daldrup. „Das Vermächtnis wurde trotz des Scheiterns auf dem internationalen Parkett im ,Planwerk Leipzig 2030‘ zusammengeführt und als städtebauliches Leitbild vom Stadtrat verabschiedet“, sagt er. „Im Fokus standen die Stärkung der urbanen Orte und Freiräume, die Stadterneuerung und der Stadtumbau, die neuen Arbeitswelten im Norden und die neue Seenlandschaft im Süden. Das Planwerk wurde zum langfristig wirksamen stadträumlichen Konzept erarbeitet, das noch heute die Entwicklung Leipzigs prägt.“
Lütke Daldrup widerspricht Einschätzungen, Leipzig hätte die Mammutaufgabe Olympia überfordert. „Vor 20 Jahren war Leipzig noch keine Wachstumsstadt, sondern hatte jede Investition bitter nötig“, stellt er fest. „Olympische Spiele 2012 hätten Jahre früher einen großen Entwicklungsschub vor allem bei der Infrastruktur ausgelöst. Auch der Wohnungsbau hätte profitiert.“ Dass inzwischen am Lindenauer Hafen ein neues Quartier am Wasser entstanden ist, geht auf die damaligen Planungen für das Olympische Dorf zurück. Auch die Wildwasseranlage am Markkleeberger See wurde im Zuge der Bewerbung für 2012 geplant.
Thärichen, seit dem Jahr 2014 Vorstand der hiesigen Konsum-Genossenschaft, vermutet ebenfalls: „Leipzig hätte einen unglaublichen Schub bekommen, die Entwicklung wäre um Jahre beschleunigt worden.“ Die Hoteldichte, die die Stadt jetzt besitze, hätte schon 2012 existieren können. Ebenso der hervorragende internationale Ruf, den mittlerweile Champions-League-Auftritte von RB Leipzig befördern.
„Mit unserem Konzept der Nachhaltigkeit und Überschaubarkeit waren wir der Zeit zu weit voraus“, schätzt Thärichen. „Ich bin sicher, dass es auch bei den Olympischen Spielen eine Abkehr vom Gigantismus geben wird.“
Mark Daniel
Andreas vom Zwenkauer See hat dies geteilt.