Ein wahrer Krimi ...
„Kreuzworträtselmord“: Vor 40 Jahren fand ein Schkeuditzer einen toten 7-Jährigen in einem Koffer
Das vielleicht dramatischste Verbrechen der DDR jährt sich zum 40. Mal: der „Kreuzworträtselmord“. Er gilt als der Kriminalfall mit der weltweit umfassendsten Auswertung von Schriftproben. Die Ermittlungen haben auch Verbindungen nach Sachsen.
„Es war genauso ein Dreckswetter wie heute“, sagt Uwe Theuerkorn. Nebel, ein bisschen kälter, etwas mehr Schnee. Mit der LVZ ist der Schkeuditzer an diesem Tag im Januar noch einmal an jenen Ort gekommen, der vor 40 Jahren sein Leben durchaus beeinflusst hat. Der gelernte Gleisbaufacharbeiter ist damals 19 Jahre alt, läuft als Streckenwärter jeden Tag zur Kontrolle der Schienen die acht Kilometer von Schkeuditz nach Leipzig-Wahren oder in der Gegenrichtung. Zwischen den Gleisen 2 und 3: An jenem Tag im Januar 1981 liegt er plötzlich zwischen Kilometer 107,2 und 107,4, zwischen den Gleisen 2 und 3 ein brauner Koffer, leicht feucht auf dem Deckel vom gefallenen Schnee und rechts eingebeult. Mit einem Laschenschlüssel zum Nachziehen von lockeren Schienenbefestigungen – „irgendwie hatte ich schon eine dunkle Vorahnung“ – öffnet Theuerkorn den Koffer und wird diesen grauenvollen Anblick nie vergessen: Zwischen vielen Zeitungen liegt in eine Plastefolie eingewickelt ein zusammengekauertes Kind. Eine alte Fellmütze ist über die Beine gezogen. Über die teils ausgefüllten Kreuzworträtsel in den Zeitungen – durch die markante Handschrift die einzige verwertbare Spur – können die Ermittler Monate später über die Schwiegermutter, die die Kreuzworträtsel ausgefüllt hatte, den Täter ausfindig machen. Berührung bringt Gewissheit: Eine kurze Berührung des Oberschenkels mit dem Laschenschlüssel bringt die traurige Gewissheit, dass das Kind tot ist. „Durch die Folie hat man das kleine Köpfchen gesehen. Da habe ich gleich wieder zugemacht.“ Was der Schkeuditzer in diesem Moment noch nicht weiß: Mit seinem Fund wird er die umfangreichsten Ermittlungen in der DDR-Geschichte auslösen. Bald ist jedoch klar, dass es sich um den am 15. Januar als vermisst gemeldeten Lars Bense, sieben Jahre alt, aus Halle-Neustadt handelt. Keine Alpträume: „Die Erinnerungen an diesen Moment verblassen nicht“, sagt der heute 59-Jährige. Alpträume habe er aber nicht, er könne „total ruhig schlafen“. Er habe sich damals nicht vorstellen können, dass „es in der DDR solche Lumpen gibt, die sich an Kindern vergreifen“. Dass der Täter ein Jahr jünger ist als er, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Nach einem ersten Schock stoppt er einen Kohlezug mit über 1000 Tonnen Braunkohle, informiert den Lokführer über den grausigen Fund, rennt 500 Meter weiter zum nächsten Fernsprecher, damit seitens des Stellwerks die gesamte Strecke gesperrt wird, und wartet vor Ort auf das Eintreffen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Arzt. „Bis dahin habe ich mehrere Zigaretten geraucht“, erinnert sich Theuerkorn. Fürs Rauchen am Fundort habe er an diesem Tag seinen „ersten Anschiss abgefasst“, später einen zweiten vom Brigadier auf Arbeit, weil er viel zu spät erscheint. „Doch ich wurde ja zunächst von der Kripo nach Leipzig zum Verhör und zur Blutgruppenbestimmung gebracht“, berichtet er. Dort habe man ihn eher wie einen Täter behandelt, mit der Straßenbahn wieder zurückgeschickt und zur Verschwiegenheit verpflichtet. Keinerlei Anerkennung: Gibt es Anerkennung für das beherzte Agieren? „Nein, weder von Polizei- noch von Bahnseite“, sagt der Schkeuditzer, der – Ironie des Schicksals – 1991 mit Frau und Kind in ein Häuschen direkt am Bahndamm in Schkeuditz-Papitz zieht. Nur wenige Hundert Meter von jener Stelle entfernt, an der er vor vier Jahrzehnten den braunen Koffer mit dem grausigen Inhalt gefunden hat. Von den monatelangen Ermittlungen vor 40 Jahren bekommt Theuerkorn nur wenig mit, obwohl seine Frau Monika bei Halloren Halle Erstliga-Handball spielt – sicher auch weil er vor Gericht nicht als Zeuge aussagen muss. Erst viel später erfährt er vom unglaublichen Ausmaß der Ermittlungen. Fremdeln mit Filmen: Mit dem einige Jahre später gedrehten Fernsehfilm der Reihe „Polizeiruf 110“ und einer Fernsehdoku nach der Wende fremdelt er – seiner Meinung nach werden da „viele Fakten verfälscht und wir Eisenbahner als Blödmänner dargestellt“. Da habe ihm schon ein wenig das Eisenbahnerherz geblutet. Versöhnt hat ihn ein wenig die Veranstaltung „Kriminalisten im Kreuzverhör – spektakuläre Kriminalfälle in der DDR“, zu der er 2017 nach Gera eingeladen wird. Mit dabei sind der damalige Leiter der halleschen Morduntersuchungskommission Siegfried Schwarz, der Kriminalrat a. D. und Autor Hans Thiers sowie Schauspieler Andreas Schmidt-Schaller (Polizeiruf 110, Soko Leipzig). „Schönes Event“, sagt Theuerkorn. In Familie noch Thema: Und heute, wie gestaltet sich die Retrospektive auf das Geschehen vor 40 Jahren? „In der Familie ist dies schon immer mal Thema, sonst verblassen einige Erinnerungen“, so der Schkeuditzer. „Manchmal, wenn ich an der Fundstelle vorbeikomme, denke ich daran, dass der kleine Junge von damals heute vielleicht ein glücklicher Familienvater hätte sein können.“ Der Täter: Matthias S. (18) spricht den siebenjährigen Lars Bense am 15. Januar 1981 vor dem Kino im Speisesaal der Gaststätte „Treff“ in Halle-Neustadt an, lockt ihn unter einem Vorwand in die Wohnung der Mutter seiner Freundin und missbraucht ihn dort. Später erschlägt er den Jungen mit einem Hammer und sticht anschließend mehrmals auf ihn ein. Die in einen Koffer verpackte Leiche wirft er später auf der Fahrt nach Leipzig aus einem Zugfenster. Das Urteil: 1982 wird Matthias S. zu lebenslanger Haft mit gleichzeitiger Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Da er zum Tatzeitpunkt erst 18 Jahre alt ist, wird das Verfahren nach der Wende wieder aufgerollt: Das neue Urteil lautet auf zehn Jahre Jugendstrafe mit anschließender Einweisung in den Maßregelvollzug. Das weitere Schicksal: 1999 wird Matthias S. endgültig entlassen und lebt mit seiner Frau sowie deren Sohn in Magdeburg. Dort verstirbt er schwer krank am 15. Januar 2013 – genau 32 Jahre nach seinem Verbrechen. Die Angehörigen: Die Eltern des Opfers ziehen mit der älteren Schwester in eine andere Stadt, erhalten neue Arbeitsstellen. Später trennen sie sich. Der zuvor schon alkoholkranke Vater, der völlig abstürzt, stirbt am 15. Januar 1994 – auf den Tag genau 13 Jahre nach dem Verbrechen an seinem Sohn. Der Vater des Täters nimmt sich einige Jahre nach der Tat selbst das Leben. Die Ex-Freundin des Täters: Die damalige Freundin des Täters, Kerstin Apel, veröffentlicht im Februar 2013 den Roman „Der Kreuzworträtselmord. Die wahre Geschichte“. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen sie wegen möglicher Mittäterschaft oder Beihilfe werden gut ein Jahr später aus Mangel an Beweisen eingestellt. Die Ermittler: Die erweiterte Morduntersuchungskommission zählt bis zu 60 Kriminalisten – plus vier extra abgestellte Stasi-Offiziere von der Untersuchungsabteilung IX. Sie werten binnen gut zehn Monaten über 550 000 Schriftproben aus – darunter Zehntausende Antworten auf ein eigens platziertes Kreuzworträtsel in der damaligen SED-Bezirkszeitung „Freiheit“, Kaderakten, Anträge an Wohnungsgenossenschaften, Anmeldungen an den Ifa-Vertrieb für den Kauf eines Autos, Telegramme, Karteikarten des Amtes für Arbeit sowie 60 Tonnen Altpapier, die von Schülern in Halle-Neustadt gesammelt zu den Ermittlern weitergeleitet werden. Die Stasi: Von jeder Ermittlungsakte geht ein Durchschlag an die Stasi, sie ist von Beginn an involviert. Einem gebürtigen Bad Dübener und späteren Chef der halleschen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, Generalmajor Heinz Schmidt, ist es zu verdanken, dass die groß angelegte Abnahme von Schriftproben gegen einigen Widerstand in den eigenen Reihen auch neun Monate nach dem Mord weiter fortgesetzt wird. Am Freitag, dem 13. November trifft die richtige Schriftprobe endlich ein. Der Handschriften-Experte: Karlheinz Böhle aus Wilsdruff (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) ist damals als Ausbilder zuständig für die Schriftsachverständigen der Volkspolizei und in ständigem Kontakt mit den ermittelnden Kollegen in Halle. Er erklärt vor einigen Jahren in der „Sächsischen Zeitung“: „Trotz viel fortschrittlicherer Ermittlungsmethoden könnte der Fall heute womöglich gar nicht mehr aufgeklärt werden.“ Grund sei, dass aktuell wesentlich weniger mit der Hand geschrieben wird. Die Nachgeschichte: Es gibt mehrere Bücher zu dem Fall. 1988 wird er als 123. Folge der DDR-Filmreihe „Polizeiruf 110“ verfilmt – mit dem gebürtigen Arnstädter Andreas Schmidt-Schaller als Leutnant Thomas Grawe in seinem 15. Fall sowie als Premiere mit dem gebürtigen Chemnitzer Günter Naumann als Hauptmann Günter Beck. Regie führte der Dresdner Thomas Jacob. Von Martin Pelzl