Lang ersehnt, geliebt und gehasst: Die A72 ist das Straßenbauprojekt Nummer 1 in Sachsen. In einer LVZ-Serie beleuchten wir die Licht- und Schattenseiten dieser teuren Trasse, die mit zwanzig Jahren Verspätung fertig werden soll. Teil 1: Kurbelt die neue Autobahn wie erhofft die Wirtschaft im Leipziger Land an?
Bis zur nächsten Fußball-Weltmeisterschaft wird die A72 wahrscheinlich fertig sein - bis zur nächsten im eigenen Land. Dieser zynische Ausspruch kursiert seit Jahren im Leipziger Raum. Denn 2006, im Jahr des WM-Sommermärchens, sollten schon Autos von Chemnitz bis zur A38 kurz vor Leipzig auf der neuen Trasse unterwegs sein. So war das mal geplant.
Doch bis heute wird am Teilstück ab Rötha immer noch gebaut. Der Fertigstellungstermin heißt aktuell Ende 2026. Wieder und wieder stockten Planungen und Bau für eine Autobahn, die viele Kilometer über früheres Tagebaugelände führt.
Lotter Metall profitiert von der Trasse
Trotz der immensen Verzögerung und obwohl viele Akteure extrem genervt waren: Vertreter aus Wirtschaft und Politik betonten immer wieder, wie wichtig diese Trasse für die Region ist. Die Frage ist nun, ob sie die Wirtschaft wie erhofft ankurbelt oder nicht.
Für Lotter Metall in Borna trifft dies zu, ist sich Geschäftsleiter Alexander Seidemann sicher: „Wir sind definitiv ein Unternehmen, das stark von der Autobahn profitiert.“ Die Firma handelt mit kleinen Schrauben und riesigen Stahlträgern, hat 16 Standorte in Mitteldeutschland und wuchs in den vergangenen dreißig Jahren von 23 auf 280 Mitarbeiter.
Kunden und Standorte besser beliefern
„Mit der Autobahn konnten wir unsere Geschäfte weiter voran treiben, weil wir viel schneller sind“, so Seidemann. Wenn ein Fahrer zum Beispiel Material in die Niederlassung ins Erzgebirge bringt, brauchte er früher über die B95 ein und eine Dreiviertelstunde und „es war fast täglich Stau“. Heute sei er in etwas mehr als einer Stunde dort, „ein deutlicher Gewinn“. Auch nach Merseburg verkürze sich die Fahrt von anderthalb auf eine knappe Stunde.
„Wir können unsere Kunden und Standorte viel besser beliefern und Prozesse straffen. Eine Expansion wäre ohne die A72 nicht möglich gewesen“, meint der Geschäftsleiter. Zu seiner Fahrzeugflotte gehören 30 LKW und noch mal deutlich mehr PKW und Transporter.
Straße wesentlich für Firmen
Ähnlich ist die Situation beim Betonwerk Bad Lausick. Im Betriebsteil Thierbach bei Kitzscher werden Beton-Sonderelemente hergestellt, zum Beispiel 40 Meter lange und 90 Tonnen schwere Brückenteile. Dieses Geschäftsfeld entstand im Zuge der Autobahn, denn Logistik spielt hier eine entscheidende Rolle, sagt Geschäftsführer Frank Czichos.
Unternehmer Frank Czichos: „Wo keine Straße ist, da siedelt sich keine Firma an und dort gibt es keine Arbeitsplätze.“
„Wir leben davon Beton zu verkaufen und den müssen wir transportieren“, meint er. Auf der viel befahrenen früheren B95 sei man oft an Grenzen gestoßen, „die Autobahn vor der Haustür hat uns sehr geholfen“. Das gelte seiner Meinung nach für die gesamte Region: „Sicher verschandelt solch eine Trasse zum Teil die Landschaft. Aber wo keine Straße ist, da siedelt sich keine Firma an und dort gibt es keine Arbeitsplätze.“
Umweg von 122 Kilometern wegen Baustelle
Was den Chef von 160 Mitarbeitern allerdings nervt: Werden die großen Brückenteile via Spezialtransport in den Norden gefahren, muss die schwere Ladung derzeit erst mal nach Chemnitz über die A4, weil sie nicht durch das enge Baustellen-Öhr zur A38 fahren darf. Das sei ein Umweg von 120 Kilometern und „sehr ärgerlich“, findet Czichos.
Doch nicht alle Unternehmen, die auf Fahrzeuge angewiesen sind, brauchen die neue Autobahn unbedingt. Die Automobile-Borna-Gruppe hat fast 200 Mitarbeiter. Verkauf und Reparatur plus Fahrschule heißen die Geschäftsfelder. „Bei uns ist die Infrastruktur nicht ganz so wichtig“, sagt Geschäftsführer Jens Strehlau. „Und die bisherige vierspurige B95 war ja auch nicht so schlecht“. Einen Vorteil würde die Autobahn jedoch für die Mitarbeitersuche bringen: Denn die Arbeitswege werden schneller.
Vorteil für Notarzt- und Krankentransporte
Die Sana Klinik Leipziger Land ist mit tausend Mitarbeitern eines der größten Unternehmen der Region. Das Bornaer Krankenhaus hat die Autobahn-Anschlussstelle quasi vor der Haustür. Geschäftsführer Roland Bantle verweist auf mehrere Vorteile: Patienten und Angehörige erreichen besser die Klinik. Auch Notarzt- und Krankentransporte sind schneller unterwegs. Zudem haben sich die Anfahrtswege für die Mitarbeiter zeitlich verkürzt. „Das steigert unsere Attraktivität als Arbeitgeber“, so der Klinik-Chef. Er hoffe, dass der Ausbau in Richtung Leipzig wie geplant vorankommt, damit sich diese Effekte noch verstärken.
Auch die Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK) betont, wie wichtig eine gute Verkehrsanbindung für die regionale Wirtschaft ist. Für eine Bewertung sei es allerdings noch zu früh, da immer noch gebaut wird. „Zu beobachten ist jedoch schon jetzt, dass einige der an der Autobahn liegenden Städte und Gemeinden neue Gewerbegebiete bereits gezielt mit der Nähe zur A72 bewerben. Beispiele dafür finden sich in Borna und Frohburg“, teilt die IHK mit.
Landrat: „A72 hat uns nach vorn gebracht“
Laut Handelskammer waren 2020 das Ernährungsgewerbe und die chemische Industrie mit jeweils mehr als 400 Millionen Euro Jahresumsatz die beiden Top-Industriebranchen im Landkreis Leipzig. Mit jeweils mehr als 200 Millionen Euro Jahresumsatz gehörten auch Maschinenbau, Metallverarbeitung und Verarbeitung von Steinen und Erden zu den bestimmenden Branchen der Region.
Landrat Henry Graichen hat den Bau der Autobahn seit Anfang an im Blick. Zu Beginn war er noch Bürgermeister in Neukieritzsch. Der CDU-Mann sagt klar: „Die A72 hat uns entscheidend nach vorn gebracht.“ Im Raum Geithain zum Beispiel, wo die Trasse schon einige Jahre fertig ist, seien die Vorteile durch Wohn- und Wirtschaftsansiedlungen schon jetzt zu sehen.
Enorme Gesamtkosten
Sicher seien die immensen Verzögerungen ärgerlich. „Aber man muss auch sagen, dass der Bau auf Kippenboden extrem schwierig ist“, meint Graichen. Eine gründliche Untersuchung der Bodenbeschaffenheit und die Sicherheit seien für ihn wesentlich – auch wenn es länger dauert.
Ein Umdenken fordert der Landrat, was den Lärmschutz betrifft: Über die jetzt geltenden Grenzwerte müsse man sich unterhalten. In solch einer dicht besiedelten Region wie dem Leipziger Land sei es mit der Akzeptanz für so ein Bauwerk sonst schwierig. Die Belastung müsse „erträglich“ sein“.
Was das riesige Projekt insgesamt kostet? Mit der stattlichen Summe drängt es wohl niemanden an die Öffentlichkeit. Die einzelnen Abschnitte lagen in unterschiedlichen Zuständigkeiten.
Die Autobahn GmbH, die für das letzte 7,2 Kilometer lange Teilstück von Rötha bis zur A38 in Leipzig verantwortlich ist, informiert lediglich über diese Kosten: 95 Millionen Euro. Der Abschnitt von Borna bis Rötha (9,5 Kilometer) soll nach Angaben des Landesamtes für Straßenbau und Verkehr 144 Millionen Euro gekostet haben. Von Rochlitz bis Borna (20,5 Kilometer) wurde bei der Einweihung im Jahr 2013 die Summe von rund 200 Millionen Euro genannt.
Von Claudia Carell